Warum wir umdenken und umlenken müssenLeitartikel von Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Warum wir umdenken müssen, Umweltschutz

Politik und Staaten allein können die Aufgaben, vor denen die Menschheit im 21. Jahrhundert steht, nicht bewältigen. Die Herausforderungen sind gigantisch: weltweites Bevölkerungswachstum, knapper werdende Ressourcen, Verlust von Biodiversität, Klimawandel, wachsende Ungleichheiten zwischen und innerhalb der Länder dieser Welt. Diese Entwicklungen betreffen uns alle – und jeder ist aufgerufen zu tun, was er kann.

Globale Herausforderungen meistern wir als Gesellschaft nur gemeinsam oder gar nicht. Nehmen wir ein aktuelles Beispiel: Die Corona-Krise hat uns vor Augen geführt, dass die Welt ein globales Dorf ist. Innerhalb weniger Monate breitete sich das neuartige Corona-Virus über Ländergrenzen und Kontinente hinweg aus. Über Nacht brachen globale Lieferketten zusammen; ein Schock, nachdem sich der weltweite Warenverkehr im Laufe der letzten 60 Jahre um das 19-fache erhöht hatte. Die Corona-Krise offenbart unsere Abhängigkeit von der globalisierten Produktion – und die Verwundbarkeit der Weltwirtschaft.

Am härtesten getroffen sind die Ärmsten der Armen in den Entwicklungsländern. Dort fordert die Corona-Krise nicht nur die Gesundheitssysteme heraus, sondern führt zu dramatischen Wirtschafts- und Hungerkrisen. Die Stabilität vieler Staaten steht auf dem Spiel. Die Folgen sind Gewalt, Krieg und Fluchtbewegungen. Millionen Angestellte und Abermillionen Arbeiter auf dem informellen Markt verloren bereits ihre Jobs – während die Lebensmittelpreise durch die gekappten Lieferketten stetig steigen. In diesen Ländern gibt es weder Konjunkturprogramme noch Kurzarbeitergeld. Die soziale Not wächst dramatisch. Internationale Solidarität und Hilfe sind auch in unserem eigenen Interesse absolut notwendig.

Warum wir umdenken müssen, Umweltschutz

Covid-19 ist ein Weckruf!

Wir müssen aus Schaden klug werden. Diese Armuts- und Wirtschaftskrisen werden das Virus überdauern. Globalisierung muss in vielfacher Weise neu ausgerichtet werden. Denn wir verbrauchen viel zu viele Ressourcen in viel zu hohem Tempo. Wir zerstören Lebensräume für Tier- und Pflanzenarten und tragen so dazu bei, dass die Artenvielfalt in atemberaubender Geschwindigkeit unwiederbringlich schrumpft und pandemiefähige Erreger immer schneller ihre Kreise ziehen.

Wir müssen uns auf eine neue Gemeinwohl-Ökonomie verständigen. Dazu gehört, Globalisierung mit globalen Standards sozial und ökologisch nachhaltig zu gestalten. Diesen Umbau schulden wir denen, die dem von Industriestaaten verursachten Klimawandel schutzlos ausgesetzt sind und jenen, die unter schwierigsten Bedingungen dafür arbeiten, dass wir zu billigen Preisen einkaufen können.

Wenn sich 20 Prozent der Menschen in der wohlhabenden Welt herausnehmen, 80 Prozent aller globalen Ressourcen zu verbrauchen, ist das eine Frage von Gerechtigkeit. Die Überlebensfragen der Menschheit lauten: Wie können wir im Jahr 2050 fast zehn Milliarden Menschen ernähren? Gelingt es, Ressourcenschutz und Agrartechnologie zu verbessern? Und wie versorgen wir zehn Milliarden Menschen mit Energie?

Die Weichen dafür werden ganz wesentlich in Afrika gestellt, wo sich die Bevölkerung bis 2050 verdoppeln wird. Die Energiewende dort erfordert eine Investitions- und Innovationsoffensive: Deutsche und europäische Technologien können den Kontinent zum Grünen Kontinent der erneuerbaren Energien machen – durch Investitionen in Solar, Wind, Wasserstoff und seine Folgeprodukte E-Fuels oder Methanol. Mit deutscher Unterstützung steht in Marokko bereits das größte Sonnenkraftwerk der Welt. Nun planen wir dort die erste industrielle Produktionsstätte für grünen Wasserstoff.

Immer mehr Verbraucherinnen und Verbraucher wollen mit ihrem Lebens- und Konsumstil dazu beitragen, die Produktionsbedingungen in Entwicklungs- und Schwellenländern zu verbessern: für Mensch und Umwelt. Weil nur fairer Handel die entscheidenden Entwicklungsschritte bringt. Im September 2019 habe ich das Textilsiegel „Grüner Knopf“ eingeführt. Ein Hingucker und Entscheidungshelfer! Mit dem „Grünen Knopf“ zeichnen wir sozial und ökologisch nachhaltig hergestellte Textilien aus und helfen Verbraucherinnen und Verbrauchern, sich bewusst für solche Produkte zu entscheiden. Zertifiziert werden nur Produkte von Unternehmen, die insgesamt 46 anspruchsvolle Sozial- und Umweltkriterien erfüllen.

Warum wir umdenken müssen, Umweltschutz, Solaranlagen
Warum wir umdenken müssen, Umweltschutz, Ökolabels

„Wenn alle so leben würden, wie wir Deutschen, bräuchten wir drei Erden!"

Eine faire, nachhaltige und wirtschaftliche Produktion ist keine Utopie, sondern in ganz konkreten Schritten erreichbar. Am Kaufpreis – und damit für Kundinnen und Kunden – ändert das nur wenig. Dafür führen einheitliche Bedingungen zu einem fairen Wettbewerb – und dazu, dass Arbeiterinnen und Arbeitern an den Produktionsstandorten mehr an Lohn bleibt.

Ich möchte sensibilisieren statt kritisieren. Sensibilisieren, dass jede und jeder mit verhältnismäßigem Aufwand im Sinne des Verursacherprinzips einen Beitrag leisten kann: Jeder kann fair gehandelte Waren kaufen, jeder kann sich klimaneutral, besser noch klimapositiv stellen und durch ausgesuchte Kompensationsprojekte zusätzlich Gutes für Mensch und Natur in Entwicklungs- und Schwellenländern bewirken.

Wir brauchen eine globale ökologisch-soziale Marktwirtschaft und eine gerechtere Handelspolitik. Ich bin überzeugt: Unser deutsches öko-soziales Wirtschaftsmodell kann Vorbild für die globale Wirtschaft sein. Deutschland als wirtschaftsstärkstes Land der EU muss eine Vorreiterrolle für Menschenrechte und Nachhaltigkeit innerhalb Europas einnehmen und mit gutem Beispiel vorangehen.

Wie es gelingen kann, alle Dimensionen der Nachhaltigkeit – die soziale, ökologische, und ökonomische – zusammenzubringen, ist in meinem Buch nachzulesen. Lassen Sie sich inspirieren und ermutigen. Machen Sie mit – für eine gerechtere und nachhaltigere Welt!

 

Dr. Gerd Müller

Dr. Gerd Müller 

ist war von 2013 bis 2021 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. 2017 erschien sein Buch „Unfair! Für eine gerechte Globalisierung“ und 2020 „Umdenken. Überlebensfragen der Menschheit.“ (Murmann Verlag Hamburg 2020, 200 Seiten, 20 Euro.)