HI statt KIMenschwerdung als Kerngeschäft der Schule

Trotz aller Unkenrufe brauchen unsere Kinder und Jugendlichen nicht noch mehr Technik, sondern mehr denn je Menschlichkeit. Welche Folgen dieser fromme Wunsch für unsere Schulen hat, leiten Klaus Zierer und Thomas Gottfried aus der Weihnachtsgeschichte des Lukas-Evangeliums ab.

„Ach, wenn doch nur immer Weihnachten wäre“, träumt Mutter Hoppenstedt in Loriots zeitlos aktuellem Sketch über die vermeintliche Familienidylle beim Fest der Liebe. Sie spricht damit aus, was sich wohl die meisten Menschen wünschen: ein harmonisches Miteinander, wahre Menschlichkeit, nicht nur am Feiertag. Warum sollte diese Utopie nur für die Familie gelten? Warum nicht auch für die Schule?

Die Schule ist bekanntlich weit mehr als eine Lernfabrik. Sie ist vor allem Lebensraum. Mindestens neun Jahre verbringen Kinder und Jugendliche zusammen mit Gleichaltrigen und ihren Lehrpersonen in der prägendsten Zeit ihres Lebens. Dort werden die Weichen für Persönlichkeitsbildung und Werthaltungen gestellt, was in den Biographien eine weit größere Wirkung hinterlässt als der Erwerb von Wissen und Kompetenzen. Doch worum dreht sich heute die öffentliche Debatte zur Schule? Um Chat- GPT, KI, Laptops, Tablets und Whiteboards. Als ob es nichts Wichtigeres gäbe als Technik, gepusht von profitgierigen Medienfirmen und pädagogisch inkompetenten Unternehmensberatungen, gehypt von einer kurzsichtigen politischen und medialen Landschaft.

Es lohnt ein Blick in das Weihnachtsevangelium nach Lukas, um sich wieder auf den Kern schulischer Bildung und Erziehung zu konzentrieren. Der zweitausend Jahre alte
Text, der bis heute auch für Nichtchristen nichts von seiner Faszination eingebüßt hat, ruft uns in Erinnerung, worum es wirklich geht, wenn der Start eines Lebens gelingen soll, das die individuelle Bestimmung mit dem Dasein für andere Menschen verbindet und so ein Modell erfüllten Menschseins darstellt. Die Geburt Jesu wird mit dem Verweis auf Kaiser Augustus in einen weltgeschichtlichen Rahmen eingebettet, dessen historische Details zwar von der Theologie als unzutreffend erkannt wurden, jedoch diesem lokalen Vorgang in Israel eine universale Bedeutung verleihen. Auch Schule gehört seit jeher zum Kernbestand menschlicher Zivilisation und ist Ausweis dessen, was Kinder und Jugendliche einer Gesellschaft wert sind. Ein Wert, der sich weder an den immer teureren Schulbauten oder digitalen Geräten festmachen lässt, noch an dem, was Regierungen in ihren Haushaltsetats für Bildung einstellen. Viel wichtiger ist die Aufmerksamkeit, mit der sich Politik und Gesellschaft pädagogischen Fragen widmen:

  • Welche Bildungs- und Erziehungsziele sollen angestrebt werden?

  • Auf welchem Menschenbild beruht das schulische Bildungskonzept?

  • Worauf sollte sich Schule konzentrieren und was sollte sie ignorieren?

  • Wie gelingt Besinnung auf das Wesentliche, damit Bildung Ruhe und Zeit bekommt, die jede menschliche Entwicklung braucht?

Schule ist Heimat, ein Ort vertrauter Mitmenschen, der Sicherheit verleihenden Regelmäßigkeit, stabilisierender Strukturen und verlässlicher Umgebung.

Dem vermeintlich mächtigen Herrschern Kaiser Augustus und Quirinius, dem Statthalter von Syrien, steht der Zimmerer Joseph gegenüber, von dem nur berichtet wird, dass er aus dem Haus und Geschlecht Davids stamme und sich mit Maria, seiner Verlobten, die ein Kind erwartete, auf den Weg von Nazareth nach Betlehem machte, um sich in die Steuerlisten eintragen zu lassen. Josef spielt eine scheinbar marginale Rolle. Zugleich wäre ohne ihn die Geburt Jesu anders verlaufen, wenn es denn überhaupt soweit gekommen wäre. Seine Treue zu seiner Verlobten Maria trotz der unklaren Vaterschaftsverhältnisse, wie uns das Matthäus-Evangelium erzählt, seine Begleitung und seine Präsenz erst ermöglichten die Geborgenheit, die der neugeborene Gottessohn erfährt. Als die Hirten zur Krippe treten, finden sie Maria und Josef neben Jesus. Er hat sich nicht vom Acker gemacht, er ist bei seiner Familie geblieben, auch wenn von der psychologischen Bedeutung der Anwesenheit des Vaters bei der Geburt zur damaligen Zeit sicher noch nicht die Rede war.

Geborgenheit ist auch in der Schule wichtiger denn je. Unsere Kinder und Jugendlichen sind in körperlicher und seelischer Hinsicht in einem Maße beeinträchtigt und gefährdet wie nie zuvor. Der Wandel der Familie, die immer weiter zunehmende Individualisierung und Pluralisierung der Lebenskonzepte, ein Leben im materiellen Überfluss, nicht nur religiöse, sondern allgemeine Orientierungslosigkeit und Überforderung durch exponentiell wachsende Optionen und Alternativen in Sinnfindung und Lebensführung schicken unsere jungen Menschen auf Herbergssuche 2.0 – die heute in Australien und Neuseeland, in Nepal und Ruanda, in Kanada und auf den Kanaren ihre Heimat suchen und doch oft wieder nach Hause zurückkehren, ohne wirklich neue Wurzeln gefunden zu haben. Schule dagegen ist Heimat, ein Ort vertrauter Mitmenschen, der Sicherheit verleihenden Regelmäßigkeit, stabilisierender Strukturen und verlässlicher Umgebung. Wir dürfen Schule nicht durch die Kälte immer mehr ausufernder Geräte und digitaler Netze zu einem Labor umfunktionieren, in dem durch computergenerierte Standards eine Pseudo-Individualität auf Kosten von Kreativität und Gemeinschaft forciert wird.

Begegnung und Gemeinschaft, Kommunikation und Nähe bilden den emotionalen Nährboden der Geburt Christi, die sich nach der Überlieferung im Umfeld von Bauern und Hirten ereignete. Während Weihnachtskrippen heute fast eine Idylle darstellen und bürgerlich verklärt werden, bezeichnet der von Lukas verwendete griechische Begriff phatnē (φάτνη, hebräisch אבוס ’evûs) ursprünglich einen Futtertrog, also einen Platz für Tiere, um Nahrung aufzunehmen und wieder zu Kräften zu kommen. Diese aus Stein oder Lehm gefertigte, zum Teil mit Getreide gefüllte Futterkrippe für Haustiere, vor allem Esel und Rind, befand sich in einem Privathaus, wo Reisende auch übernachten konnten, sodass Menschen und Tiere also unter einem Dach lebten. Da für den Gottessohn im komfortableren Wohnraum („Herberge“) jedoch kein Platz war, wurde er im darunterliegenden Höhlenraum im Erdgeschoss geboren.

Die Geburtsgeschichte Jesu ist das Modell für den allein zukunftsträchtigen Lebensstil, der uns und unsere Kinder leiten sollte, wenn wir noch eine Chance haben.

Wenn wir heute von Bildung für nachhaltige Entwicklung sprechen, denken wir nicht selten an den globalen Klimawandel, an den CO2-Ausstoß und die Luftverschmutzung, an die Energie- und Ressourcenknappheit, an das Artensterben. Dass Pädagogik zunächst beim eigenen Haus beginnt – Ökologie heißt „Lehre vom Haushalt“ – ist uns oft nicht bewusst. Die Haltungen, die dabei auch wichtige Bildungs- und Erziehungsziele darstellen, heißen Besinnung, Verantwortungsbewusstsein, Bescheidenheit, Rücksichtnahme, Selbstbeherrschung, Ehrfurcht, Teilen und Verzicht. Die Einfachheit, in die der Gottessohn hineingeboren wird, ist unsere einzige Chance, dass Welt und Menschheit eine Zukunft haben. Die Geburtsgeschichte Jesu ist das Modell für den allein zukunftsträchtigen Lebensstil, der uns und unsere Kinder leiten sollte, wenn wir noch eine Chance haben. Doch Hoffnungslosigkeit und Resignation sind keine weihnachtlichen Haltungen. Schon bei der Verkündigung der Geburt Jesu durch den Engel zeichnet der Evangelist Lukas Maria als eine emanzipierte, selbstbewusste Frau, die ihre Zukunft mit Vertrauen und Zuversicht in die eigenen Hände nimmt, wie es im Magnifikat heißt: „Meine Seele preist die Größe des Herrn und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Denn der Mächtige hat Großes an mir getan.“ (Lk 1,46b-49a).
In dieser Haltung macht sie sich mit Josef hochschwanger auf den Weg und gelangt ans Ziel. Trotz aller Krisen und Herausforderungen, Fehlentwicklungen und Versäumnisse, bildungspolitischen Versagens und medial befeuerter, endloser Dauerdebatten bleibt für uns Lehrpersonen nur eine einzige Option: Hoffnungsvoll und mutig, mit einem klaren Kompass und zuversichtlich ans tägliche Werk zu gehen und den pädagogischen Stein immer und immer wieder nach oben zu wälzen.