Besser sprechen - weniger StolperkinderAutor: Prof. Dr. Norbert Huppertz

Prof. Dr. Norbert Huppertz ist ein deutscher Pädagoge, Buchautor und Professor an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Huppertz studierte nach dem Abitur Philosophie, Pädagogik und klassische Philologie und promovierte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen unter anderem Theoriebildung in der Sozialpädagogik (Partial-holistischer Ansatz), Elementarpädagogik und Wertethische Grundlagen der Pädagogik. Unter Leitung von Norbert Huppertz wurde 1985/86 an der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Rahmen mehrerer Forschungsarbeiten das partial-holistische Theoriebildungskonzept entwickelt.
Der Partial-Holismus (latein.: pars „der Teil“ und griech.: holon „das Ganze“) ist die Lehre von der Betrachtung und Erforschung des Details (partial), ohne dabei dessen Verbindung zu seinem Ganzen (holistisch) außer Acht zu lassen. Die partial-holistische Position zeichnet sich dadurch aus, dass soziale Problemstellungen als solche behandelt, jedoch auch in ihrer gesellschaftlich wie auch globalen Verknüpfung betrachtet werden. Der partial-holistische Ansatzberücksichtigt wichtige Erkenntnisse der bereits bestehenden Forschungslinien (Phänomenologie, Hermeneutik, Empirie, Dialektik, Aktionsforschung etc.). In ihrer Umsetzung verfügt diese Denk- und Forschungsposition über ein ausgeprägtes Anforderungsprofil und verlangt eine hohe Praxisrelevanz. In der sozialen Praxis bedeutet die Arbeit mit dieser Forschungsposition: den Einzelnen sehen, aber immer sein soziales Ganzes mit bedenken. Ziel der partial-holistischen Forschung: die Kluft zwischen Theorie und Praxis überwinden und so zu einer umfassenden Theoriebildung gelangen.

Vorbemerkung: Im Kern bezieht sich mein folgender Beitrag auf die ungerechte Behandlung von Kindern. Man möge mir gestatten, dass ich es kurz und knapp sage:
Tausende von Kindern sind es, die jährlich in Deutschland den Eintritt in die Schule nicht ohne Probleme schaffen. Es sind nicht Kinder, die von Behinderungen betroffen sind, sondern solche, die in den ersten sechs Lebensjahren nicht die richtige Förderung und Bildung erhielten.

Insbesondere fehlt es ihnen an der erforderlichen Sprachkompetenz und den dazu erforderlichen ('"richtigen"!) Anregungen. Sie "stolpern" an der Schwelle zur Schule. Zehn Prozent und teilweise noch viel mehr Kinder eines Jahrgangs sind solche "Stolperkinder2 – in Deutschland insgesamt wohl um die 100.000. Dies trotz zahlloser Förderprogramme und Unsummen Geld, die in "Sprachförderung" investiert wurden. Ständig werden neue Förderprojekte aufgelegt und Sprachprogramme probiert. Es scheint nicht zu helfen. Die Anzahl der Stolperkindergeht nicht zurück – im Gegenteil: Die Tendenz steigt. Den Gründen und dem Problem dieser Tausenden von Kinderschicksalen ist man bisher nicht beigekommen. Allerdings hielten sich wohl auch die Anstrengungen der Ergründung dieser schicksalhaften Problematik sowie die Suche nach Verantwortlichkeiten in Grenzen. Meine Annahme: Es fehlt an der qualitätsvollen durchgängigen Sprachbildung, und zwar im gesamten Alltag und bei allen didaktischen Angeboten sowie Projekten und Gelegenheiten in Krippe und Kindergarten. Die Alternative wird hier vorgestellt.

Ich nenne mein Konzept "Lebensbezogene Sprachbildung" und zwar erstens, weil sie "im Leben" (!) der Erzieherin/des Erziehers mit den Kindern, nicht losgelöst im "stillen Kämmerlein", und außerdem mit fremden Personen stattfindet; zweitens, weil sie die Kinder für "ihr Leben", vor allem das Schulleben, bereit macht. Was sind nun die Gründe für die missglückende Sprachförderung und wie sieht die Alternative konkreter aus?

1. Missstände und deren Gründe

Der erste Grund des Übels klang schon an: falsches Verständnis und Separierung. Man glaubt, die Kinder die Sprache lehren zu können wie ein Schulfach, ein Musikinstrument oder gar wie in einem Volkshochschulkurs. Deshalb trennt man sie und glaubt, ihnen so die Sprache "beibringen" zu können. Das ist der große Irrtum, dem man immer wieder erliegt. Im Augenblick gibt es eine beabsichtigte "Neuerung" in Baden-Württemberg. "Vier Stunden zusätzliche Sprachförderung pro Woche", durchgeführt von "Deutschlehrern" und "anderen Fachleuten": "Wir wollen nur noch schulreife Kinder einschulen", so wörtlich im Interview die Kultusministerin des Landes. Baden-Württemberg am 13.02.24. (Anmerkung der Redaktion: Laut Pressekonferenz am 27.02.24 soll in Bayern künftig nur eingeschult werden, wer über ein "bestimmtes Sprachniveau" verfügt.)

Der zweite Grund: Verspätung. Seit Jahren herrscht die Meinung vor, man könne die "Vorschulkinder", also jene Kinder, die sich noch ein Jahr vor der Einschulung befinden, noch rasch ein wenig fit machen. Vergessen oder gar nicht gewusst ist dabei, dass es die sensiblen Phasen gibt. Es gibt eine Dimension dieser Phasen, die die Sprachentwicklung betrifft. Sensible Phase bedeutet erstens, dass diese Zeit des Lernens einmalig und begrenzt ist (Zeitfenster) und zweitens, dass Kinder in dieser Zeit besonders empfänglich sind. Revidierte Version: Reine Motivation, das heißt aus Lust an der Sache und ohne belohnt werden zu müssen, zu lernen, gilt auch und besonders für den Spracherwerb. Reine Motivation, das heißt aus Lust an der Sache und ohne belohnt werden zu müssen, zu lernen, gilt auch und besonders für den Spracherwerb. Man muss einem einjährigen Kind nicht sagen "Üb'noch mal deine Sprache" und ihm eventuell noch eine Belohnung in Aussicht stellen; denn es "spricht" aus Lust und Freude an der Sache - eben, weil es primär und nicht sekundär motiviert ist. Deshalb muss sprachliche Anregung - wo immer es geht - von Anfang an explizit, durchgängig und lebensintegriert erfolgen.

Dritter Grund: Fehlende Buchführung und Ergebnisqualität - Stolperkinder. In deutschen Kindergärten wissen manche oft nicht, was aus ihren Kindern wird, wenn sie den Kindergarten verlassen und in die Schule kommen - sollten. Man überlässt das gerne der Schulverwaltung. Die Statistiker auf Landesebene veröffentlichen in allen deutschen Bundesländern korrekt jedes Jahr ihre Zahlen über die Quoten der eingeschulten Kinder im Land und über jene Kinder, die dem Alter nach eigentlich hätten eingeschult werden sollen, aber nicht schulfähig waren bzw. nicht für schulfähig gehalten wurden (Zurückstellungen). Ich nenne diese Kinder "Stolper-"Kinder", weil sie bereits an der Schwelle zur Eingangstür der Schule "stolpern". Man könnte auch sagen, dass sie schon vor der Schule "sitzen bleiben". Diese Problematik ist bekannt - allerdings nicht an den richtigen Stellen. Für Baden-Württemberg veröffentlicht zum Beispiel jedes Jahr die Statistik, dass etwa 10.000 Kinder bei der Einschulung scheitern - und dass dabei überwiegend und statistisch überproportional Jungen betroffen sind. Im Vergleich zu Mädchen sind Jungen mit Migrationshintergrund häufiger betroffen. Nach unseren eigenen Forschungsergebnissen ist es in kaum einem anderen deutschen Bundesland wesentlich anders. Ein sprachliches Qualitätsmanagement im Kindergarten müsste sich im Sinne der Ergebnisqualität dieser Problematik dringend annehmen. Allerdings wäre die erste Voraussetzung, dass Kindergärten selbst sich dieser prekären Lage bewusst werden. Das pädagogische Fachpersonal kennt diese schlimmen Zahlen in der Regel nicht, welche ihr eigenes Bundesland betreffen. Erzieherinnen und Erzieher im Kindergarten wissen manchmal nicht, wie viele Kinder ihres eigenen Kindergartens nicht "ordnungsgemäß" eingeschult werden. Auf die Frage, ob man in ihrem Kindergarten über die Schulfähigkeit und Einschulungsquoten der "abgehenden" Kinder "Buch führe", die ich in zahlreichen Fällen gestellt habe, kam meistens ein zögerliches "Nein".

Erzieherinnen und Erzieher im Kindergarten wissen manchmal nicht, wie viele Kinder ihres eigenen Kindergartens nicht „ordnungsgemäß“ eingeschult werden.
2. Die Praxis der lebensbezogenen Sprachbildung

Im Rahmen der Forschung über unseren Ansatz haben wir eine Reihe von Grundsätzen für die konkrete praktische Umsetzung entwickelt, aus denen hier wenige Beispiele genannt seien. Lebensbezogene Sprachbildung nach unserem Ansatz erfolgt prinzipiell bei jeder Begegnung von pädagogischer Fachkraft und Kind. Sprachliche Bildung in der Begegnung heißt nicht "Kinder volllabern" (man verzeihe den Jargon), sondern ausdrücklich und sinnvoll sprechen. Das mag dann schon ein wenig "lehrmäßig" klingen, wirkt aber – darf jedoch nicht "lehrerhaft" im negativen Sinne sein.

a) Sprachbildung im Alltag

Unsere Grundsätze lauten:
(1) Auf Kinder zugehen. – (2) Viel sprechen; möglichst alles sprachlich begleiten. – (3) Dialogisch sein. – (4) Explizit sein (sich Alltagssprache ausdrücklich vornehmen). – (5) Aus allem sprachlich etwas machen und herausholen. – (6) Andere Kinder dazunehmen und als Helfer einsetzen. – (7) Prioritäten (die "richtigen" Kinder auswählen). – (8) Den Kindern vieles erklären. – (9) Die nötige Ruhe im Kindergarten haben und Stille erleben lassen. – (10) Deutlich und vorbildhaft sprechen. – (11) Das Kind (be) treffen; wirklich "ansprechen". – (12) Rückmeldung von Kolleginnen o. a. einholen

Beispiel 1: Prioritäten:
Die “richtigen“ Kinder auswählen
Vier Kinder kommen am Morgen jeweils mit ihren Müttern zur gleichen Zeit in den Kindergarten. Die Erzieherin begrüßt alle Kinder und Eltern und gibt Ihnen die Hand. Eines der Kinder, von dem sie weiß, dass es wenig spricht, begrüßt sie besonders intensiv. Sie sagt: "Guten Morgen, Moritz. Du hast ja eine ganz nasse Jacke, bist du mit deiner Mama heute zum Kindergarten gelaufen? Oder seid ihr mit dem Auto gefahren?" – Kind: "Gelaufen." Erzieherin: "Das ist schön, wenn man morgens an die frische Luft kommt. Jetzt musst du nur noch deine nasse Jacke ausziehen und deine Hausschuhe anziehen. Aaron ist schon da und wartet auf dich in der Bauecke." Das Gegenteil wäre eine Erzieherin, die sich nur denjenigen Eltern und Kindern zuwendet, die sich gesprächig zeigen und dabei gerade die Kinder außer Acht lässt, welche die sprachliche Zuwendung besonders nötig hätten.

Beispiel 2: Viel sprechen
Während die Erzieherin einem Kind in der Garderobe dabei hilft, seine Jacke zu schließen, sagt sie zu ihm: "So, jetzt ziehe ich den Reißverschluss deiner Jacke zu; denn draußen ist es heute sehr windig. Deine Jacke hält den Wind ab, so dass du nicht so schnell frierst." Im negativen Fall erklärt die Erzieherin den Kindern immer nur dann etwas – und dann nur sehr knapp –, wenn sie gezielt danach fragen. Diese Erzieherin geht davon aus, dass die Kinder "schon nachfragen werden", wenn sie etwas nicht verstehen oder ähnliches.

Beispiel 3: Die nötige Ruhe und Stille
Die Erzieherin geht mit einer Gruppe von Kindern in einen Nebenraum des Kindergartens, um dort ein didaktisches Angebot durchzuführen. Sie möchte die Kinder vorher "zur Ruhe bringen" und baut eine kleine Übung ein, die sie selbst im Flüsterton einführt: "Und wenn wir jetzt hinüber gehen, dann versuchen wir mal, mucksmäuschenstill zu sein. Wir sind so still wie die Mäuschen, so still, dass wir höchstens noch unser eigenes Atmen hören. Versuchen wir es doch erst mal hier im Kreis." Die Kinder sitzen einen Moment lang still auf ihren Stühlen, niemand spricht. Erzieherin: "Oh, das macht ihr toll, ich habe niemanden gehört. Und wenn wir jetzt hinübergehen, machen wir das auch so. Man hört dann kein Piepsen und keine Schritte. Ihr geht in das Zimmer und setzt euch ganz still auf einen Stuhl. Ich zeige immer auf ein Kind, und das Kind kann dann ganz still in den Nebenraum gehen. Dafür müsst ihr mich ganz genau ansehen, damit ihr wisst, wann ihr dran seid."

Kümmerkinder. Noch einmal zurück zu Beispiel 1, Moritz: Das Kind wird von der pädagogischen Fachkraft bevorzugt angesprochen. Moritz ist ein Kümmerkind. Was heißt das? Das von uns geprägte Wort "Kümmerkind" will besagen, dass wir uns – ohne auch nur ein einziges Kind anderweitig zu vernachlässigen oder ihm Wichtiges vorzuenthalten – um bestimmte Kinder, die uns anvertraut sind, in besonderem Maße "kümmern" sollten, und zwar deshalb, damit sie uns keinen "Kummer" bereiten. Das gesamte Team der Einrichtung sollte sich, will man lebensbezogene Sprachbildung wirksam durchführen, um die eventuell gefährdeten Kinder, das heißt die potenziellen Stolperkinder, frühzeitig kümmern. Es sind die Kinder, denen wir uns besorgt und engagiert, individualisierend und differenzierend zuwenden, – ohne die anderen, unter an- derem auch die „Begabten“, zu übersehen. Die Erzieherin widmet diesen Kindern ihre besondere Aufmerksamkeit und möglichst täglich ein besonderes "Sprachgeschenk".

b) Sprachbildung bei didaktischen Angeboten und Projekten

Neben der soeben beschriebenen Sprachbildung im Alltag plädieren wir für die Sprachbildung bei den durch die pädagogischen Fachkräfte inszenierten Angeboten und
Projekten, das heißt: Bei jedem Bilderbuchangebot, bei jeder Liedeinführung, bei jedem Fingerspiel, bei jeder Exkursion im Rahmen eines Projektes usw. erfolgt auch Sprachbildung, und zwar immer gleichsam Huckepack auf dem Rücken der sonstigen Zielsetzungen, die beabsichtigt sind. Das bedeutet unter anderem: Es wird kaum
zusätzliche Zeit benötigt. Was sonst für zusätzliches Personal ökonomisch aufgebracht werden würde, sollte man in die Verbesserung des Personalschlüssels in den Einrichtungen investieren. Dort käme es den richtigen Kindern zugute, während es bei der Methode der separierenden Sonderprogramme durch fremdes Personal unnütz
verloren geht.

Literatur:
M. Huppertz/n. Huppertz: Sprachbildung und Sprachförderung in Kindergarten und Krippe – Lebensbezogen und alltagsintegriert, PAIS-Verlag 2015
N. Huppertz/M. Barleben: Die Sprachwerkstatt im Kindergarten, PAIS-Verlag 2016
N. Huppertz: Besser sprechen – Mehr schulfähigkeit, PAIS-Verlag 2013

Neben der Sprachbildung im Alltag plädieren wir für die Sprachbildung bei den durch die pädagogischen Fachkräfte inszenierten Angeboten und Projekten