Die Zukunft (selbst) gestaltenEin Blick in die Zukunft mit der Zukunftsforscherin Universitätsprofessorin Weissenberger-Eibl

Marion Weissenberger-Eibl

Universitätsprofessorin Marion Weissenberger-Eibl ist Deutschlands Innovationsexpertin Nummer Eins. Als Gutachterin und Expertin für Innovation und Zukunftsforschung ist sie eine gefragte Ansprechpartnerin in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik und begleitete mitunter den Expertendialog von Bundeskanzlerin Angela Merkel. 

Text: Landesinitiative Frauen in MINT-Berufen (Zweitverwertung) 
Wir leben in ständiger Bewegung, unser Lebensrhythmus hat sich in den vergangenen 100 Jahren exponentiell erhöht. In sämtlichen Arbeits- und Lebensbereichen – egal ob Kommunikation, Gesundheit oder Mobilität – haben Forschung und Industrie große technologische Fortschritte erzielt, die unseren Alltag an vielen Stellen vereinfacht und grundsätzlich verändert haben. Wo das noch hinführen wird und wie wir den wesentlichen Herausforderungen unserer Zeit begegnen können und müssen – damit beschäftigt sich Universitätsprofessorin Dr. Marion Weissenberger-Eibl.

Frau Universitätsprofessorin Weissenberger-Eibl, wie muss man sich eigentlich die Arbeit einer Innovationsexpertin vorstellen?

Diese Frage ist tatsächlich gar nicht so leicht zu beantworten, da dieser Beruf so viele verschiedene Facetten mit sich bringt. Man kann aber sagen, dass ich in erster Linie Institutsleiterin sowie Lehrstuhlinhaberin bin. Ich arbeite als Ingenieurin und Betriebswirtschaftlerin zu Entstehungsbedingungen von Innovation und deren Auswirkungen. Dabei sind meine Schwerpunktgebiete Digitalisierung, Nachhaltigkeit, Innovation und Zukunftsforschung. Diese Themen begeistern mich und kennzeichnen mein wissenschaftliches Handeln. Unter der Zukunftsforschung dürfen wir uns aber keinesfalls den Blick in die Glaskugel vorstellen. Stattdessen geht es darum, sich systematisch mit Wissen aus der Vergangenheit, aktuellen Trends und Szenarien zu beschäftigen, um strategisch die Situation zu begutachten und bessere Entscheidungen treffen zu können. Kurz: Es geht darum, Vorstellungen möglicher Zukunftsszenarien zu entwickeln, um sich so auf den Weg in eine wünschenswerte Zukunft machen zu können. Dafür braucht es den Austausch zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft, den ich immer anstrebe. So bin ich in den verschiedensten politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Gremien aktiv, begutachte neue Ideen, wie beispielsweise im Rahmen des Deutschen Innovationspreises, lehre am KIT und mache Auftragsforschung an der Schnittstelle von Wissenschaft und Wirtschaft.

Welche sind die wichtigsten Technologien, wenn wir über Innovation und Zukunft sprechen? Wo müssen Wirtschaft, Forschung und Gesellschaft in Deutschland anpacken, um in Zukunft nicht abgehängt zu werden?

Aus meiner Sicht ist die Digitalisierung ein ganz entscheidender Metatrend, weil sie viele andere Entwicklungen erst ermöglicht oder befeuert. Digitale Technologien verändern unser aller Arbeits- und Lebenswelten umfassend. Sie definieren, wie wir kommunizieren, wie wir zusammenleben und wie wir unsere Arbeit verrichten. Gleichzeitig bieten sie Möglichkeiten für neue Geschäftsmodelle, die völlig neue Wege eröffnen. Denken wir einmal an den Wandel der Mobilität. Klimawandel und Ressourcenmangel erfordern ganz neue Herangehensweisen in diesem Bereich. (…) Die Digitalisierung ermöglicht auch Sharing-Konzepte, die das Problem der letzten Meile lösen, indem das Fahrzeug irgendwo abgestellt und per App vom Nachnutzer gefunden werden kann. Ich bin fest davon überzeugt, dass dies nur ein erster Schritt in Richtung eines völlig neuen Mobilitätssystems ist – dass wir hier echten Wandel erleben werden. Vielleicht mit einer Idee, die heute noch gar nicht denkbar ist, so wie das Smartphone als „Hosentaschencomputer“ vorher kaum vorhersehbar war. Solche Entwicklungen erhoffe ich mir durch die Digitalisierung als Metatrend, die wir aber nur mitgehen können, wenn wir uns entsprechend darauf vorbereiten und einer gesamtgesellschaftlich geteilten Vision folgen.

Was würden Sie aus Sicht der Zukunftsforschung ändern, wenn Sie jetzt sofort das Ruder für Deutschland übernehmen könnten?

Diese Frage ist sehr allumfassend und daher nicht so einfach zu beantworten. Um uns für die Zukunft aufzustellen, müssen wir zuerst einmal digitaler werden. Gerade hier hat die Corona-Pandemie große Defizite aufgedeckt, durch die Deutschland in Zukunft abgehängt werden könnte, wenn wir jetzt nicht konsequent gegensteuern. Schulen waren nicht auf digitales Lernen eingestellt. Was die digitale Ausstattung betrifft, liegt Deutschland gegenüber anderen Ländern deutlich zurück. Gerade im Hinblick auf die zukünftige Bedeutung digitaler Technologien im privaten wie auch beruflichen Leben entsteht hier ein großes Defizit für deutsche Schüler- und Schülerinnen. Entsprechend wichtig ist es, nicht nur die Infrastruktur aufzubauen, sondern insbesondere an neuen Lehr-Lernkonzepten zu arbeiten. Die Lehrerinnen und Lehrer müssen ins Boot geholt werden, um die Chancen, die uns die Technologien bieten, noch viel besser zu nutzen, als nur den analogen Unterricht zu streamen. In der Pandemie strauchelten nicht nur Schulen, auch viele Unternehmen konnten nicht ins Home-Office wechseln, obwohl es eigentlich aufgrund der Tätigkeit gut umsetzbar gewesen wäre. Es muss eine Unternehmenskultur geschaffen werden, die dazu führt, dass die Transformation als Beschleuniger aufgefasst wird und nicht als Hindernis. Dabei sollten Unternehmen ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an Entscheidungsprozessen teilhaben lassen und ihre Ideen wertschätzen, um so eine gemeinsame digitale Vision des Unternehmens zu schaffen.

Sie starteten Ihre Karriere als Diplom-Ingenieurin für Bekleidungstechnik, bevor Sie sich der Betriebswirtschaft zuwandten. Inwiefern beeinflusst Sie das Ingenieursstudium? Bringt Ihnen das fachliche Vorteile für Ihre Arbeit in der Zukunftsforschung?

Als Kind war mein Berufsziel natürlich nicht, Universitätsprofessorin und Leiterin eines Forschungsinstituts zu werden. Einen ganz konkreten Beruf hatte ich damals noch nicht im Kopf. Aber ich wusste, dass ich mit anderen Menschen zusammenarbeiten und kreativ sein wollte. Ganz zentral war dabei für mich auch, meine Hände einsetzen und etwas erschaffen zu können. Das hat mich dann auch in die Modebranche geführt. Bei Escada habe ich die Produktionsentwicklung geleitet und war zudem stellvertretend für die Produktion verantwortlich. Schon in dieser Zeit habe ich gelernt, das Praktische, Technische und das Design mit dem Kaufmännischen zu verbinden. Heute hilft mir diese interdisziplinäre Erfahrung, mich schnell in verschiedene Bereiche hineinzudenken und sie miteinander zu verknüpfen. Ich frage mich immer: Ist etwas, das technisch umsetzbar ist, auch kaufmännisch sinnvoll? Sind neue Ideen und neue Technologien auch in der Praxis umsetzbar und werden sie von der Gesellschaft benötigt? Dank der Erfahrung, die ich in den verschiedenen Bereichen gesammelt habe, habe ich gelernt, wie wichtig heute Interdisziplinarität ist. Das heißt beispielweise, dass auch die Modebranche sinnvollerweise mit Experten aus dem Bereich der Umwelt, Energie oder Bio-Chemie zusammenarbeiten sollte. Durch eine solche Zusammenarbeit kann beispielsweise an nachhaltigen Stoffen, Verfahren und Designs gearbeitet werden. Genau das macht für mich Innovation aus, dafür brenne ich!

Sie leiten den Lehrstuhl „Innovations- und Technologie-Management iTM“ am Institut für Entrepreneurship, Technologie - Management und Innovation am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Welche Botschaften sind Ihnen für Ihre Studierenden wichtig?

Als Botschaft möchte ich meinen Studierenden mit auf den Weg geben, sich immer ein klares Ziel zu setzen und dies auch immer im Blick zu halten, es gleichzeitig aber auch ständig zu hinterfragen. Denn auf unserem Weg erhalten wir immer wieder neue Eindrücke und Perspektiven und verändern uns ständig. Dann muss ich mich fragen, ob der eingeschlagene Weg immer noch zu mir passt. Falls nicht, sollte ich mich nicht scheuen, meinen Weg anzupassen und in eine andere Richtung zu gehen. Dazu gehört auch die Fähigkeit zu reflektieren. Dafür empfehle ich meinen Studierenden, sich ganz aktiv auszutauschen. Sie sollten jede Gelegenheit nutzen, ihr persönliches Netzwerk auszubauen. Ich selbst habe über die Jahre ein großes Netzwerk aufgebaut, tolle Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Bereichen kennen gelernt und konnte persönlich immer wieder sehr großen Nutzen daraus ziehen. Aktuell sind die Möglichkeiten des Netzwerkens angesichts der Pandemie eingeschränkt. Doch bis wir uns wieder wie gewohnt persönlich bei Veranstaltungen oder Konferenzen austauschen können, sollten Studierende die Möglichkeiten, die virtuelle Plattformen und Medien uns bieten, nutzen. (…)

Wird es zukünftig weniger außergewöhnlich sein, dass Forscherinnen wie Sie hochrangige Politikerinnen und Entscheidungsträgerinnen beraten?

Wir sehen auf jeden Fall einen Trend in diese Richtung, ja! Es gibt immer mehr Frauen und auch Professorinnen in hohen wirtschaftlichen Positionen. In einer Studie der Bertelsmann Stiftung zu der Innovationsfähigkeit deutscher Unternehmen zeigt sich, dass der Anteil von Frauen in innovativen Unternehmen deutlich höher ist als in Unternehmen mit weniger stark ausgeprägtem Innovationsfokus. In Unternehmen, die tiefgreifenden Wandel wagen, ist er mit 24,4 Prozent am höchsten. Wir wissen also, dass wir innovativer sind, wenn wir diversere Teams bilden. Das gilt es zu fördern!

Welche Bereiche sind interessante und zukunftsfähige berufliche Felder für die heranwachsende Generation, besonders der Frauen? Werden MINT-Berufe noch wichtiger?

Wir leben in einer Zeit des Fachkräftemangels, entsprechend gefragt sind alle Nachwuchskräfte. Besonders herauszuheben sind aus meiner Sicht alle, die die neuen Technologien weiterdenken oder entsprechend nutzen können. IT-Systemelektroniker*innen, Fachinformatiker*innen oder auch Elektroniker*innen im Automatisierungsbereich werden sowohl in großen als auch kleinen und mittleren Unternehmen gesucht. Noch entscheidender sind aus meiner Sicht aber die Data Scientists, die die riesigen Datenmengen entsprechend zu nutzen wissen oder generell Menschen, die es schaffen, IT-Themen mit anderen Bereichen zu verknüpfen, um so Lösungen zu erarbeiten. Ein weiterer Bereich ist die Pharmaindustrie. Auch hier werden Nachwuchskräfte gesucht. In einer immer älter werdenden Gesellschaft wird die Pharmaindustrie noch zusätzlich an Bedeutung gewinnen. Insbesondere für Frauen werden die Bedingungen in den MINT-Berufen in Zukunft attraktiver werden. Gerade der Fachkräftemangel kann dazu führen, dass gerade hier die Unternehmen Konditionen bieten, die zum Beispiel die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessern. Doch während ich die Bedeutung dieser Berufe ungebremst steigen sehe, so bin ich auch davon überzeugt, dass es nicht ausreicht, nur noch in diesen Sphären zu denken. Erst in der Kombination mit Geistes-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften werden wir es schaffen, hoch technologische Ideen zu entwickeln, die tatsächliche Lösungsansätze bieten und zur Anwendung kommen. Erst die Akzeptanz und der Erfolg am Markt machen eine Idee zu einer Innovation. Wir sollten aus meiner Sicht die Fächer nicht mehr so strikt trennen, sondern Curricula viel stärker vernetzen.

Wir bedanken uns bei Marion A. Weissenberger-Eibl und der Landesinitiative „Frauen in MINT-Berufen“ vom Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus Baden-Württemberg für die Bereitstellung dieses Interviews.