Familie weiterdenkenEin Kind – zwei Eltern? Vielfalt von Elternschaft – ein kultureller Wandel familialer Wirklichkeiten mit neuem Wissen und neuen Techniken der Reproduktion
Text: Dr. Bernd Eggen
Wie wir über Elternschaft denken, welche Bedeutungen wir ihr zuschreiben, wie wir als Gesellschaft mit ihr umgehen – alle diese Dinge unterscheiden sich erheblich je nach Zeit und Ort. In unserer Zeit und an den von der europäischen Aufklärung geprägten Orten ist selbstverständlich: die Unterscheidung von Sexualität als intimes Handeln und Zeugung als biologischer Prozess und zunehmend selbstverständlicher: die selbstbestimmte Herstellung von Familie ungeachtet des biologischen Geschlechts der beteiligten Eltern.
Bis weit in das 17. Jahrhundert hinein bestimmte eine christliche Kultur, die seit dem frühen Mittelalter an Bedeutung gewonnen hatte, die Einstellungen zu Sexualität und Elternschaft. Sexualität hatte allein der Fortpflanzung zu dienen, Elternschaft war nur legitim bei Mann und Frau, und auch nur dann, wenn sie in einer Ehe lebten. In dem Maße wie die Wissenschaft an Bedeutung gewann, hat sie mit neuem Wissen und neuen Techniken bisherigen Vorstellungen widersprochen, sie erweitert und so zur Aufklärung beigetragen.
Die Annäherung an die Realität ist stets verbunden mit Zäsuren des Wissens von Menschen und Gesellschaft über Menschen und Gesellschaft. Die Geschichte der Zeugung ist ein Beleg dieser Entwicklung, die des Geschlechts ein weiterer. Über Jahrtausende galt die Zeugung als ein göttliches Mysterium, ein unbeeinflussbarer Naturvorgang. Noch im 18. Jahrhundert versuchte man die Anwesenheit winziger, fertig ausgebildeter Menschen im Spermium oder im Eierstock nachzuweisen. Mitte des 19. Jahrhunderts, also vor nicht einmal 200 Jahren, begann man langsam zu begreifen: Nicht Mann und Frau, nicht der ganze Mensch, sondern Samen und Ei, zwei Zellen, mikroskopische Gebilde, die heute mit der Pipette durch einen Akt der Einspritzung extrakorporal in der Petrischale vereinigt werden können, sind die zwei exakt bestimmbaren und extrahierbaren organischen Materialien zur genuinen Erzeugung eines Lebewesens. Die Kenntnis über Samen, Ei und biologischer Reproduktion hat auch unser Verständnis vom biologischen Geschlecht verändert.
Der historische Umgang mit dem biologischen Geschlecht und seinen Varianten reicht je nach Zeit und Ort von Verehrung über Verachtung bis hin zur Vernichtung. Dass es neben Adam und Eva noch etwas Anderes gab, ist also selten ignoriert worden. Die Geschichte war oft religiös begründet, aber über tausende Jahre frei von wissenschaftlichem Wissen. Auch unser heutiges Wissen über die biologischen Grundlagen des Lebens und ihre möglichen Wirkungen auf unser Verhalten ist eher unklar als geklärt. Aber es erlaubt eine andere Sicht auf Elternschaft und Erziehung. Zeichen dieses Wandels ist nicht nur die jetzt sichtbare, faktische Ausübung gleichgeschlechtlicher Elternschaft, sondern auch ihre gesellschaftliche Anerkennung, beispielsweise durch die obersten Gerichte, dass gleichgeschlechtliche Paare das Aufwachsen von Kindern genauso fördern können wie Paare verschiedenen Geschlechts. Die Elternrolle ist zwar abhängig vom biologischen Geschlecht, aber nicht entlang einer binären Geschlechtlichkeit von Frau und Mann. Es ist nicht der Unterschied von Samen und Ei, der den Unterschied in der Erziehung des Kindes ausmacht. Diese biologische Zweigeschlechtlichkeit erklärt nicht die sozialen Varianten bei Mutterschaft und Vaterschaft, bei Männlichkeit und Weiblichkeit, erklärt nicht die unterschiedlichen Erziehungsstile der Eltern und das Weiterbestehen traditionaler Rollenmodelle in Familien mit homosexuellen Paaren. (…)
Wohl häufiger denn je entstehen neben der biologischen und sozialen Einheit von Mutter, Vater und Kind andere Strukturen von Elternschaft. Drei Entwicklungen der Elternschaft sind hervorzuheben:
- Eine simultane und sequenzielle Pluralisierung der Elternschaft verändert das soziale Verhältnis von Mutter-Vater-Kind. Die verschieden geschlechtliche Elternschaft wird simultan erweitert durch die gleichgeschlechtliche Elternschaft und durch Elternschaft, die sich nicht auf zwei Personen begrenzt. In Folge von Trennungen, Scheidungen und Wiederverheiratung gehört für die Beteiligten die temporäre, sequenzielle Elternschaft in Stief- und Patchworkfamilien zur Normalität.
- Die Anwendung der Reproduktionsmedizin führt zu einer Auflösung der biologischen Reproduktionstriade, bestehend aus zwei verschieden geschlechtlichen Paarungspartnern und deren Nachwuchs. Ein Kind kann jetzt mehr als zwei biologische Eltern haben.
- Die biologische Reproduktionstriade und die Eltern-Kindschafts-Beziehung als ein soziales Verhältnis driften auseinander. Durch die Anwendung neuer Optionen der Reproduktionsmedizin in ihren verschiedenen Varianten einer Zeugung und Fortpflanzung ohne Sexualität sind Eizellenspenderinnen, Samenspender und Leihmutterschaft die biologischen Eltern ohne Verpflichtung und Verantwortung der späteren sozialen Elternschaft
Der Wandel familialer Lebenswirklichkeiten enthält „Potenziale existenzieller Irritationen“ kultureller Gewohnheiten. (...) Zudem sind gerade im Bereich der Familie „Naturalisierungen“ kultureller Zusammenhänge besonders häufig; hier wird soziales Verhalten besonders rasch mit angeblichen biologischen Determinanten erklärt. Solche Naturalisierungen können mit der Exklusion anderer Personen einhergehen. Sie leugnen dann deren Selbstbestimmung und Teilnahme an Elternschaft. Kulturell bedeutsamer als die sequenzielle Pluralisierung der Elternschaft in der Biografie der beteiligten Erwachsenen und Kinder dürfte deshalb sein: das offene wie selbstverständliche Zusammenleben gleichgeschlechtlicher Eltern mit ihren Kindern oder das willentliche Auseinanderdriften von biologischer und sozialer Elternschaft bei gleichzeitig gesteigerten Variationen biologischer Elternschaft. Politik und Recht reagieren auf die sich wandelnden familialen Lebenswirklichkeiten. Ihre Entscheidungen tragen dazu bei, den Raum dessen neu zu vermessen, was als Elternschaft gesellschaftlich akzeptabel gilt. Eine Grundlage für ihre Entscheidungen sind zum einen präzise Unterscheidungen und Begriffe von Elternschaft und zum anderen ein Wissen über die empirische Häufigkeit der verschiedenen Formen der Elternschaft. Zudem sind gerade im Bereich der Familie „Naturalisierungen“ kultureller Zusammenhänge besonders häufig; hier wird soziales Verhalten besonders rasch mit angeblichen biologischen Determinanten erklärt.
Formen der Elternschaft: Wie entsteht Elternschaft und wieviel Eltern sind möglich?
Elternschaft ist immer auch ein Problem der Zugehörigkeit im „Wir“ einer Familie: Wer gehört zur Familie, wer nicht? Unterschieden wird im Folgenden, anders als in der Familienforschung üblich, zwischen biologischer, psychischer und sozialer Elternschaft, darüber hinaus: bei biologischer Elternschaft zwischen genetischer und nicht genetischer und bei sozialer Elternschaft zwischen familialer und rechtlicher (siehe Übersicht).
Psychische Elternschaft: Eine Blackbox
Vielen ist neben der familialen, rechtlichen und biologischen Elternschaft die psychische Elternschaft noch nicht geläufig, daher wollen wir diese kurz vorstellen. Psychische Elternschaft entsteht durch Gedanken und Gefühle. Gefühle können als psychische Beobachtungen und Beschreibungen physischer Zustände begriffen werden. In Abhängigkeit seines Körpers, seiner hormonellen Ausstattung, seines Empfindens und seiner Biografie einschließlich der eigenen kindlichen Sozialisation bildet der Einzelne seine psychische Elternschaft heraus. Eine Frau, die eine Schwangerschaft durchläuft, entwickelt vor der Geburt zuallererst im Bewusstsein eine psychische Beziehung zum Kind. Ihre Gefühle dürften sich grundsätzlich von jenen der genetischen Mutter unterscheiden, die eine Eizelle zur Zeugung geliefert hat. Die Gefühle bilden dabei keinen Gegensatz zur Rationalität. Das Denken, Fühlen und Bewerten gehören zusammen. Für einen Außenstehenden, mag er auch soziologisch, psychologisch oder pädagogisch ausgebildet sein, bleibt das individuelle Bewusstsein jedoch eine BlackBox, die von anderen nicht einsehbar ist. Was zu sehen ist, ist allein die Interaktion von Eltern und Kindern, also die familiale Kommunikation unter Anwesenden. Grundsätzlich ist bei mehr als zwei Elternteilen eine psychische Elternschaft möglich.
Empirische Vielfalt von Elternschaft
Multiple Elternschaft entsteht durch das Auseinanderfallen biologischer, familialer und rechtlicher Elternschaft, zum einen durch Entkopplung von einander, zum anderen durch Aufspaltung der jeweiligen Elternschaft. Multiple Elternschaft ist historisch kein neues Phänomen. Sie dürfte heute aber offener und selbstverständlicher und damit sichtbarer und häufiger gelebt werden. Die empirischen Beobachtungen zu multipler Elternschaft liefern bislang nur ungenaue Angaben über ihre tatsächliche Verbreitung und beschränken sich auf die soziale Elternschaft. Leben zwei Eltern zusammen, bedeutet das nicht immer, dass die bei ihnen wohnenden Kinder auch die gemeinsamen Kinder sind. Als Folge von Trennung, Scheidung, aber auch Tod und Wiederverheiratung können Stieffamilien entstehen. Es sind Familien, in denen Kinder, die aus früheren Partnerschaften stammen, im gegenwärtigen Haushalt leben. In diesem Haushalt leben also Kinder nur von einem Partner neben möglichen gemeinsamen Kindern. (...) Der Anteil nicht gemeinsamer Kinder beträgt bei verheirateten Eltern ein Prozent, bei ledigen Eltern 18 Prozent und bei verheiratet getrennten, geschiedenen oder verwitweten Eltern 51 Prozent. Es ist davon auszugehen, dass bei nicht verheiratet zusammenlebenden Eltern familiale und rechtliche Elternschaft am ehesten auseinanderfallen.
Fasst man die Eltern mit nicht gemeinsamen Kindern zusammen, dann dürften mindestens drei Prozent der in Paargemeinschaft lebenden Eltern nicht die biologischen Eltern von mit ihnen zusammenwohnenden Kindern sein. Andere Studien kommen zum Ergebnis, dass etwa sieben Prozent bis 13 Prozent der Familien in Deutschland Stieffamilien sind. Der jeweilige Anteil nicht biologischer Elternschaft dürfte jedoch immer nur eine Untergrenze bilden, da hier die Information fehlt, wie viele von den gemeinsamen, aber auch von den nicht gemeinsamen Kindern adoptiert oder in Pflege genommen sind. Setzt man die Anzahl der Adoptionen von Minderjährigen und die Lebendgeborenen eines Jahres in ein Verhältnis zueinander, dann sind in Deutschland 0,5 Prozent (2017) der minderjährigen Kinder adoptiert. Außerdem sind rund 2,6 Prozent (2016) der Geburten Folge einer künstlichen Zeugung. Die Anteile sind vergleichsweise gering, aber in absoluten Zahlen sind das 3.888 adoptierte minderjährige Kinder und 20.754 Kinder, die künstlich gezeugt wurden. Zudem fehlen die Lebendgeborenen, die außerhalb von Deutschland nach einer künstlichen Zeugung geboren wurden.
Fazit
Familiale Wirklichkeit und Elternschaft unterliegen einem kulturellen Wandel. Die tatsächlich ausgeübte Elternschaft, die faktische, also tuende und machende, also familiale Elternschaft wird zunehmend verstanden, ohne dass sie auf die biologischen Abhängigkeiten des Lebens zurückgeführt werden kann. Neben der biologischen und sozialen Einheit von Mutter, Vater und Kind entstehen neue Strukturen von Elternschaft. Eltern in ihrer sozialen, das heißt in ihrer kulturellen Bedeutung beschränken sich in ihrer Stellung zueinander weder auf bestimmte natürliche Geschlechter noch auf eine bestimmte Anzahl und: sie sind nicht beliebig in der umfassenden Verantwortung für die Erziehung des Kindes.
Dr. Bernd Eggen ist Referent im Referat „Sozialwissenschaftliche Analysen, Familienforschung in Baden-Württemberg, Forschungsdatenzentrum“ des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg. Kontakt: (07 11) 641 29 53 bernd.eggen@stala.bwl.de / www.fafo-bw.de