Familie weiterdenken...Gedanken von Pfarrer Rainer Maria Schießler, geistlicher Beirat der KEG Bayern

Familie weiterdenken Schießler

Manchmal kommt bemerkenswerte Unterstützung aus einer Richtung, von der man es nicht gleich erwartet. Seit der Legalisierung der Ehe von Homosexuellen und damit der rechtlichen Gleichstellung homosexueller Paare mit heterosexuellen Ehen in allen Lebensbereichen von der Eheschließung, dem Adoptionsrecht, der Patientenverfügung bis hin zum Erbrecht ist eine regelrechte Diskussionswelle zum Thema Ehe und Familie ausgebrochen. Gerade die Inanspruchnahme seines Titels durch homosexuelle Lebensgemeinschaften hat dem Begriff und der Institution „Ehe“ eine neue ungeahnte Aufmerksamkeit und Beschäftigung mit seiner Würde gebracht, resümierte einmal die ehemalige ev. Bischöfin Margot Käßmann.

Aber welche Lebensgemeinschaft darf jetzt den Namen „Ehe“ tragen? Ist er nur reserviert für kirchlich geschlossene sakramentale Eheschließungen? Stellt die Legalisierung der standesamtlichen Eheschließung unter Gleichgeschlechtlichen einen Angriff auf Ehe und Familie alter Schule dar? Gibt es die überhaupt noch? Können bzw. dürfen andere Lebensgemeinschaften überhaupt Kinder adoptieren und großziehen? Wer garantiert, dass die Kinder in diesen Lebensmilieus keinen Schaden nehmen? – Fragen über Fragen und die Antworten belegen das ganze Spektrum von breitem Verständnis bis hin zu aggressiver Ablehnung.

Die Aufgabenstellung – gerade im Rahmen dieser Artikelreihe in CB – ist klar: Familie heute muss ebenso weitergedacht werden, wie viele andere Lebensbereiche, wollen wir sie glaubhaft und v.a. effizient für den einzelnen Menschen wie für die ganze Gesellschaft gestalten.

Rückblick und Entwicklung

Es lohnt sich ein kleiner Tatsachenbericht zum Thema Familie, denn es gibt sowohl sie wie auch den Familienvorstand alter Schule wirklich noch, so wie ihn beispielsweise Thomas Mann in den Buddenbrooks mustergültig beschrieb. Der frühere Trainer des FC Bayern München Louis van Gaal soll sich von seinen Töchtern mit „Sie“ anreden lassen, hieß es. Er zumindest finde das ganz normal, schließlich sei er eine Respektsperson. Mit dieser Einstellung steht er sicherlich bei den meisten von uns überholt da. Wir verbinden Familie heute durchwegs weniger mit der Vorstellung einer Herrschafts-, denn mit einer Liebesbeziehung.

Die Familie aber war bis tief in die Mitte des 19. Jahrhunderts hauptsächlich von wirtschaftlichen als von sozialen Bindungen geprägt. Schon der Begriff Familie (von lat. famulus, der Haussklave) bezeichnete zuerst den Besitzstand eines Mannes, des „pater familias“, dem nicht nur Weib und Kinder, sondern gleichermaßen auch Vieh und Sklaven angehörten.

Die traditionelle Familie, entstanden durch die Liebesheirat von Mann und Frau, ist eine Erfindung des Bürgertums im 19. Jahrhundert und verdankt sich insbesondere der fortschreitenden Industrialisierung. Kinder wurden nicht mehr als Arbeitskräfte herangezogen, der Vater als Ernährer der Familie verdient das Geld, ist verantwortlich für die sozialen Kontakte und den gesamten außerhäuslichen Bereich, während sich die nicht berufstätige Ehefrau innerfamiliär um Heim und Kindererziehung kümmert.

Diese traditionelle Kleinfamilie ist in ihrer Entwicklung aber nicht stehengeblieben. Heute lebt fast jeder fünfte Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren bei Mutter oder Vater, der Anteil der alleinerziehenden Mütter ist dabei deutlich höher. Immer häufiger wachsen Jugendliche innerhalb nichtehelicher Lebensgemeinschaften auf. Diese Zahlen werden oft sehr alarmierend vorgetragen, jedoch bleibt die andere Seite unerwähnt: Dreiviertel aller Kinder und Jugendlichen leben bei Ehepaaren. Dazu gehören die Normfamilie genauso wie alternative Formen, also Stief-, Adoptiv- und Pflegefamilien sowie die Patchwork-, Mehrgenerationen- und Regenbogenfamilien (Kinder bei zwei gleichgeschlechtlichen Eltern).

Die Familie hat sich nicht überlebt, wenn auch ihre Erscheinungsformen heute im Gegensatz zu früher vielfältiger sind. „Wilde Ehen“ war ein feststehender Begriff noch in der jüngeren Vergangenheit und eigentlich bloß eine bewusste Diskriminierung von Lebensgemeinschaften, in denen sich die Partner ebenso aufrichtig und verantwortungsbewusst um die Dinge ihres Lebens kümmerten wie in gesetzlich und kirchlich geschlossenen Lebensgemeinschaften. Gott sei Dank ist diese namentliche Verurteilung heute nahezu verschwunden. Stärker ins Bewusstsein gerückt ist dafür die Tatsache, dass eben nach der Familie (von damals) nun auch die Familie (von heute) hinzukommt! Sie begegnet uns in facettenreichen Gewändern, ob als Einpersonenhaushalt, Wohngemeinschaft, kinderlose Ehe, Fernbeziehung oder sogar als eine polyamore Partnerschaft.

Familie heute
Familie heute

Es waren vor allem die Individualisierungstendenzen seit den späten sechziger Jahren, die den Menschen und dem bislang gebräuchlichen Familienmodell ganz neue Auswahl- und Entscheidungsmöglichkeiten boten, es aus einem festgefügten und engen Lebenskorsett herauslösten und in die unendliche und verheißungsvolle neue Vielfältigkeit der modernen Gesellschaft eingliederte. Einen sehr hohen Anteil an dieser Entwicklung hatte ohne Zweifel die Einführung der Pille Anfang der Sechziger.

Heute ist es selbstverständlich geworden, dass man sich absolut bewusst und selbstständig für eigene Kinder entscheidet. Frauen erhalten und entwickeln im gesellschaftlichen und beruflichen Leben immer mehr Möglichkeiten (Anm. d. Verf.: Bitte unbedingt auch in der Kirche!). Der breitere Zugang zur Bildung und die damit verbundenen längeren Ausbildungszeiten verlängern die Jugendphase und verlagern so den individuellen Eintritt in die gesellschaftliche Verantwortlichkeit auf einen späteren Zeitpunkt. Man strebt nicht mehr ausschließlich das ununterbrochene Arbeitsleben bis zum Rentenalter an, sondern öffnet sich dem selbstbestimmten Wechsel zu verschiedenen Arbeitgebern, was natürlich auch mit den Risiken der Arbeitslosigkeit zu tun hat.

Familie als sozialer Raum

Als solcher ist er unbestritten. In ihr kann jeder – je nach ihrer Intaktheit – ob Kind oder Erwachsener, sich angemessen entwickeln und wachsen, Geborgenheit, Vertrauen, Nähe und Intimität erfahren. Die notwendige Kompetenz und ausreichendes Handlungspotenzial zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben werden in der Familie für die Kinder grundgelegt, wobei neben der materiellen Fürsorge der Eltern v.a. die Vermittlung von Werten ebenbürtig ist. Niemals sollten darum gemeinsame religiöse Rituale an dieser Stelle unterschätzt werden, vom Tisch- und Abendgebet bis hin zum sonntäglichen Kirchgang. Solche immer wiederkehrenden Handlungen vermitteln einen Halt ebenso wie gemeinsame Freizeiten, das Vorlesen vor dem Zubettgehen oder musikalische Gestaltungen. Solche immer wiederkehrenden Handlungen lassen gerade in Krisenzeiten eine stabilisierende Orientierung und feste Strukturen entstehen. Wer Kinder darum frägt, was ihnen am wichtigsten ist, wird in den allermeisten Fällen die Antwort bekommen: Familie und Freunde, Freundschaft, Geborgenheit und Ehrlichkeit. Sie haben für sie bereits eine größere Bedeutung als Geld und Besitz. 

Der demografische Wandel mit immer mehr Menschen in immer mehr Singlehaushalten erzeugt konsequenterweise Ersatzfamilien, die Anerkennung und Heimat bieten: ein Verein, eine politische Gruppierung, eine religiöse oder spirituelle Gemeinschaft. Gerade in Krisen (Stichwort Coronapandemie!) und wirtschaftlich schwierigen Zeiten suchen Menschen ganz bewusst verstärkt den Wert der Familie.

Familie in Gefahr?

Begonnen mit der Industrialisierung offenbart sich die größte Herausforderung für die Familie so richtig in den vergangenen 60 Jahren: Die Zahl der Geburten in Deutschland nimmt immer mehr ab. Natürlich gibt es viele Familien. Die staatlichen Förderungen hierfür waren wohl noch nie so umfassend wie heute. Dennoch steigt auch der Anteil der Kinderlosen immer mehr an. Diese Entwicklung allein dem Selbstverwirklichungsdrang junger gebildeter und auf Karriere bedachter Frauen zuzuschreiben, greift vorschnell daneben. Es existiert gerade auch bei jungen Männern eine Bindungsangst und oftmals eine tiefe Scheu davor, mit einer Vaterschaft eine lebenslange Bindung und Verpflichtung einzugehen.

Auch das ist das Ergebnis der oben beschriebenen Individualisierungstendenzen: Im Vordergrund steht das Streben nach Glück und Freiheit, das in der Fürsorge und in der lebenslangen Verantwortung für eine Familie eher eine Beschränkung der eigenen Individualität erkennt. Äußere Kennzeichen dieses Konflikts sind dann die hohen Scheidungsraten. Faktoren wie Existenzsorgen und Arbeitslosigkeit kommen erschwerend hinzu, auch wenn es an sich unvorstellbar sein sollte, wenn heute noch Kinder ein Armutsrisiko darstellen können. Die sich im totalen Umbruch befindliche moderne Arbeitswelt fordert zudem eine grenzenlose Mobilität, die nicht jeder erfüllen kann. Mit Partner und Kinder kann man nicht einfach alle Jahre umziehen und Schule und Freunde wechseln.

Familie mit Zukunft

Wenn junge Menschen heute sagen, „Meine Eltern sind meine besten Freunde.“ dürfen wir zunächst völlig losgelöst von festgefahrenen Strukturen, wie es sie in der Vergangenheit gab, ein Eltern-Kind-Verhältnis entdecken, das sich zu einer partnerschaftlichen und von gegenseitigem Respekt getragenen Beziehung entwickelt hat. Die Generationenkonflikte von früher sind irgendwie vorüber, spätestens wenn Eltern und Kinder das gleiche Rockkonzert gemeinsam besuchen. Junge Menschen sind heute so politisch aktiv wie nie zuvor (Stichwort: fridays for future). Das macht Mut, gibt Hoffnung und den nötigen Freiraum, unvoreingenommen neue familiäre Lebensformen miteinander zu beleuchten und zu besprechen. Vorgefertigte negative Urteile gerade bei gleichgeschlechtlichen Partnern als Eltern von Kindern sind kein Beitrag für ein gesundes und v.a. aufrichtiges familiäres Gleichgewicht in unserer Gesellschaft. Nein, die Eltern von heute müssen sich natürlich nicht mit Sie anreden lassen – das Abhängigkeitsverhältnis und Angewiesensein aufeinander aber werden immer bleiben.

Von Freunden, Kollegen oder Sportkameraden kann man sich trennen, wenn Fürsorge, Respekt oder Liebe fehlen. Bei facebook genügt schon ein einfacher Click auf dem PC. Das Kind seiner Eltern und Eltern seiner Kinder bleibt man ein Leben lang. Bei allem gesellschaftlichem Wandel der Erscheinungsform von Familie bleibt doch eine Wahrheit bestehen, wie sie der unvergessliche Gesellenvater Adolf Kolping ausgedrückt hat: „Das erste, das der Mensch im Leben vorfindet, das letzte, wonach er die Hand ausstreckt, das kostbarste, was er im Leben besitzt, ist die Familie.“ – Und es wird immer so bleiben.

Familie heute