Die Welt ist in Unruhe – Zeit für ein Miteinander in VielfaltDie fünf Forderungen guter religiöser Praxis im Zusammenleben der Religionen

Text: Prof. Ulrich Hemel

Vielfalt ist oft bereichernd, manchmal aber auch gewaltig anstrengend. Dies gilt erst recht für die Vielfalt der Religionen, denn diese greifen tief in den Alltag von Menschen ein. Religionen unterscheiden sich durch ihre Ernährung und durch ihre Kleidung, aber auch durch ihre Feste und Feiern, durch Riten und Gottesdienste, durch Sitten und Gebräuche, Familienleben und Verhalten im öffentlichen Raum.

Dazu kommt ja, dass Religion Teil unserer Identität ausmacht. Religiöse Zugehörigkeit bedeutet auch: „Wer gehört zu mir“ und „Wer gehört nicht dazu?“. Wenn die Unterschiede zu stark betont und zu Gegensätzen ausgestaltet werden, kommt es zu religiösen Konflikten, auch im Kontext von Schule und Bildung.

Gemeinsam ist bei allen Religionen, dass sie nach Orientierung in der Welt suchen, indem sie über den einzelnen Menschen hinaus gehen. Sie sind Ausdruck von Neugier. Sie dienen der Orientierung in der Welt. Sie beziehen sich auf eine wahrgenommene göttliche Realität in unterschiedlichen symbolischen, weltanschaulichen und rituellen Zugängen.

Jede Religion mag sich eine Welt wünschen, in der alle Menschen begeistert ihren eigenen Grundsätzen folgen. Religiös homogene Gemeinschaften sind aber in unserer heutigen Welt selten. Schon in jungen Jahren gehört es zur Lebenserfahrung, dass es Angehörige anderer Religionen und Weltanschauungen auch vor Ort und in der eigenen Schule gibt. Wir haben also die unvermeidliche und zugleich noble Aufgabe, nach den Grundlagen für ein gutes Zusammenleben der Religionen zu fragen.

"Religionen versprechen den Frieden, aber sie bringen den Krieg." (U. Hemel 2022)

Dies gilt erst recht angesichts des Friedensparadoxes der Religionen. Dieses lässt sich wie folgt formulieren: „Religionen versprechen den Frieden, aber sie bringen den Krieg“ (U. Hemel 2022). Hintergrund einer solchen plakativen Formulierung sind Religionskriege, zuletzt und bis August 2021 in Afghanistan mit einer sehr fundamentalistischen Islam-Auslegung der Taliban. Religionskriege gab und gibt es aber auch in christlichen, jüdischen, hinduistischen und buddhistischen Kontexten. Gerade die Stadt Jerusalem (wörtlich übersetzt: Stadt des Friedens) zeigt, dass politische Konflikte auch religiöse Wurzeln haben können. Denn Jerusalem ist sowohl für die jüdische wie für die christliche und islamische Religionsgemeinschaft ein besonderer und heiliger Ort. Es ist daher auch Aufgabe der Religionen selbst, nach geeigneten Modellen guten Zusammenlebens zu suchen, ohne ihre Unterschiedlichkeit klein zu reden.

Die fünf Forderungen guter religiöser Praxis im Zusammenleben der Religionen

Wer seine eigene Religion ernst nimmt, setzt sich für sie ein. In der Begegnung mit anderen kann dies zu Konflikten führen, von Kirchenglocken bis hin zum Ruf des Muezzins, vom Kopftuch einiger muslimischer Frauen bis hin zur Burka, vom wechselseitigen Respekt bis hin zum Lächerlich-Machen des Anderen. Die Forderung nach guter religiöser Praxis ist daher immer auch die Forderung nach guter weltanschaulicher und sozialer Praxis. Weil nämlich jeder Mensch sich irren kann, müssen wir uns gegenseitig auch in religiösen Fragen das Recht auf Irrtum zugestehen, gleich ob wir atheistisch, agnostisch oder religiös geprägt sind.

Miteinander in Vielfalt

Die Forderung nach guter religiöser Praxis ist immer auch die Forderung nach guter weltanschaulicher und sozialer Praxis. Weil nämlich jeder Mensch sich irren kann, müssen wir uns gegenseitig auch in religiösen Fragen das Recht auf Irrtum zugestehen, gleich ob wir atheistisch, agnostisch oder religiös geprägt sind. Im Einzelnen geht es um fünf Forderungen:

1. Religions- und Meinungsfreiheit
2. Kult- und Gottesdienstfreiheit
3. Freiheit zu einer religiösen Bekehrungsgeschichte
4. Religiöse Toleranz im Sinn der Freiheit für und von Religion
5. Abkehr von menschenrechtsfeindlicher religiöser Praxis

Diese Forderungen schließen an die vom Parlament der Weltreligionen 1993 und 2018 religionsübergreifenden Werte an, die auch als Weltethos-Werte bekannt sind (vgl. U. Hemel 2019). Dabei gibt es immer wieder eine große Bandbreite in der Auslegung der einzelnen Forderungen. So lässt sich beispielsweise darüber streiten, ob die Beschneidung von Knaben im Judentum und Islam als Körperverletzung gelten soll oder ob sie als religiöse Handlung unter die Praxis der Religionsfreiheit fällt.

Zuallererst aber setzt „Religions- und Meinungsfreiheit“ eine Grenze gegenüber staatlicher Repression. Diese kann sich gegen Religion überhaupt (wie in China und Nordkorea) oder gegenüber Minderheitsreligionen (wie in SaudiArabien) richten.Da Religionsfreiheit auch die Meinungsfreiheit umfasst sind mit dieser Forderung auch die Belange atheistischer und agnostischer Positionen abgedeckt.

Die „Kult- und Gottesdienstfreiheit“ bezieht sich auf religiöse Praxis im öffentlichen Raum. Religion ist nie nur Privatsache. Oft greift religiöse Praxis in den öffentlichen Raum ein, in Deutschland beispielsweise bei Wallfahrten und Fronleichnamsprozessionen, in Indien beim Bad der Hindus im Ganges, in Saudi-Arabien durch die Pilgerfahrt nach Mekka.

Ein drittes, gerade durch interreligiöse Hochzeiten und Familien wichtiges Thema ist die „Freiheit zu einer religiösen Bekehrungsgeschichte“. Sie bezieht sich auf den freiwilligen Religionswechsel einer hinreichend mündigen Person. Religiöse Bekehrungen werden in vielen Staaten eher behindert. In Deutschland ist dies leider im Asylbewerberverfahren im Fall der seltenen, aber existierenden Konversion von iranischen oder afghanischen Geflüchteten zum Christentum der Fall.

Die Forderung nach „religiöser Toleranz“ gilt als selbstverständlich. Sie muss auch gegenüber atheistischen und agnostischen Positionen gelten. Da Religionen, wie erwähnt, mit Bekleidungs- und Ernährungspraktiken einher gehen, ist religiöse Toleranz häufig ein durchaus anspruchsvolles Lernfeld. So wird in Deutschland bis heute darüber diskutiert, ob Muslimas auch mit ihrem Kopftuch das Amt einer Richterin oder Lehrerin ausüben dürfen oder ob jemand als Beamter sein christliches Brustkreuz öffentlich zur Schau stellen darf.

Ein entscheidender Baustein guter religiöser Praxis ist schließlich die Abkehr von menschenrechtsfeindlichen Praktiken. Hier geht es um heute nicht mehr geübte Riten wie Menschenopfer, aber auch um die Steinigung von Ehebrecherinnen oder um die menschenverachtende Praxis der Frauenbeschneidung. Schließlich geht es auch um die religiöse Ächtung von Sklaverei, Menschenhandel und Todesstrafe, auch wenn hier nicht alle Religionen gleich engagiert sind. Ergänzen lässt sich heute die auch religiös begründete Abkehr von Umweltzerstörung, weil sie dem göttlichen Auftrag zur Bewahrung der Schöpfung widerspricht.