#schuleneudenkenErgebnisse des Barcamps #schuleneudenken der deutschen Bundesregierung, vertreten durch die Beauftrag der Bundesregierung für Digitalisierung Dorothee Bär
Text: Uta Hauck-Thum
Nicht erst seit der Corona-Krise ist das deutsche Bildungssystem auf dem Prüfstand. Doch spätestens jetzt stehen Schulen vor der Herausforderung sich möglichst rasch zu verändern, vor allem digitaler zu werden und für mehr Bildungsgerechtigkeit zu sorgen. Doch wie genau sollen sich Schulen weiter entwickeln? Auf welche gemeinsame Vision von schulischer Bildung können wir uns einigen und wie kann sie umgesetzt werden? Schulen, die sich verändern wollen, brauchen eine gemeinsame Idee, aus der Veränderungsprozesse hervor gehen bzw. die diese in Gang bringen, bevor Neues implementiert und verstetigt werden kann. Handlungsfähigkeit entsteht dabei im Austausch mit anderen, festigt und wandelt sich (vgl. Stalder 2016, 129).
Deshalb wurde im Juni 2020 das Barcamp #schuleneudenken initiiert. Die Bundesregierung, vertreten durch die Beauftragte der Bundesregierung für Digitalisierung Dorothee Bär rief Akteure aus Bildungsbereich, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zum Einreichen von Videoimpulsen zum Thema „Schule neu denken – Bildung in der Kultur der Digitalität“ auf. Die Idee des Barcamps und der wissenschaftliche Input stammen aus dem Kreis einer interdisziplinären Expertenkommission unter der Leitung von Prof. Dr. Uta Hauck-Thum, Professorin für Grundschulpädagogik und -didaktik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ziel war es, ein breites Bewusstsein dafür zu schaffen, dass sich das Verständnis von Bildung in der Kultur der Digitalität grundsätzlich verändert. Gewählt wurde ein offenes Veranstaltungsformat, das es sämtlichen Akteuren ermöglichte, sich aktiv und auf Augenhöhe einzubringen.
Knapp 90 Impulse konnten vorab auf einer Plattform zur Verfügung gestellt werden. Im Rahmen des sogenannten Flipped-Barcamps stand am Veranstaltungstag selbst nicht mehr der Input der SessionleiterInnen im Vordergrund, sondern der gemeinschaftliche Austausch der ca. 1200 TeilgeberInnen auf Basis der bereitgestellten Impulse. Über 200 Kleingruppen diskutierten dazu in Videokonferenzen über die Inhalte der Impulse. Die Gesprächsverläufe wurden protokolliert und im Anschluss qualitativ ausgewertet. Die Auswertung macht deutlich, dass sich die unterschiedlichen AkteurInnen schwerpunktmäßig mit einzelnen Teilbereichen schulischer Transformationsprozesse auseinandersetzen und dazu über individuelle Expertise verfügen. Durch das Format des Barcamps wurden individuelle Äußerungen gemäß der Kultur der Digitalität als produktive Beiträge in die Gemeinschaft eingebracht, von dieser wahrgenommen und anerkannt (vgl. Allert/Asmussen/ Richter 2017, 51). Produktivität ergibt sich dabei also aus „gemeinschaftlichen Formationen, nicht singulären Personen“ heraus. Diese Formationen „sind die eigentlichen Subjekte, die Kultur, also geteilte Bedeutung hervorbringen.“ (Stalder 2016, 130). Die Vision einer neuen Schule kann sich demnach erst entfalten, wenn Formate geschaffen werden, die gemeinschaftliche Aushandlungsprozesse als Ausgangspunkt für Veränderung möglich machen.
Themenfelder der Schulentwicklung
Im Folgenden werden zehn aus dem Material abgeleitete Themenfelder zusammengefasst dargestellt. In ihrer Gesamtheit lässt sich daraus eine Vision von Schule als Ergebnis eines gemeinschaftlichen Aushandlungsprozesses formulieren.
1. Partizipation
Die zentrale Bedeutung partizipativer Elemente im Schulentwicklungsprozess konnte aus zahlreichen Textstellen herausgefiltert werden. Ziel ist eine neue Beteiligungsstruktur, die sowohl flache Hierarchien innerhalb der Schule wie auch den Austausch und die Kooperation auf Augenhöhe unter sämtlichen AkteurInnen der Schulfamilie (Schulleitung, Lehrende, SchülerInnen, Eltern, AkteurInnen im Quartier) mit einschließt. Dabei werden vor allem für SchülerInnen und Eltern größere und demokratischere Beteiligungsmöglichkeiten an Schulentwicklungsprozessen eingefordert, die sich nur durch eine Struktur „flacher Hierarchien“ realisieren lässt. In diesem Zusammenhang wird der Wunsch nach einer Kultur des Ermöglichens laut.
2. LehrerInnenrolle
Lehrende spielen eine wichtige Rolle im Rahmen schulischer Transformationsprozesse. Mut und Offenheit werden als wichtige Voraussetzungen benannt, um sich auf neue Strukturen in den Bereichen der Lehre, der Zusammenarbeit mit anderen, der Öffnung nach außen und des zeitgemäßen Prüfen seinzulassen. Kommunikation und Kommunikationsfähigkeit der Lehrenden sind nötig, um sich innerhalb der einzelnen Felder und Praktiken zu konstituieren und als LernbegleiterInnen den Herausforderungen zukunftsorientierter Lehr- und Lernprozesse zu begegnen.
3. Kooperation
LehrerInnenkooperation geht zukünftig weit über den Austausch von Unterrichtsmaterialien hinaus. Fächerübergreifende Zusammenarbeit im Rahmen eines themenorientierten, gemeinschaftlich geplanten, umgesetzten und reflektierten Lehrens und Lernens gewinnt an Bedeutung. Gleichzeitig wird auch in diesem Zusammenhang auf die Relevanz eines neuen Empathiebewusstseins verwiesen, das gemeinschaftliche Prozesse zum einen erfordert und gleichsam befördert.
4. Lehr- und Lernprozesse
Lehr- und Lernprozesse verändern sich in der Kultur der Digitalität. Formen der Projektarbeit, des offenen Unterrichts und der Auflösung von Jahrgangsklassen hin zu Lerngruppen und -kursen bzw. Projektgruppen bei freier Zeiteinteilung werden benannt. Relevant sind jedoch nicht nur oberflächliche Sichtstrukturen wie Organisationsformen, Methoden und Sozialformen (vgl. Kunter/Trautwein, 2013, 63), sondern auch die für nachhaltige Veränderungsprozesse entscheidenden Tiefenstrukturen des Unterrichts. Tiefenstrukturen nehmen veränderte Lehr- und Lernprozesse in den Blick und betreffen die Bereiche des (Classroom-) Managements, der kognitiven Aktivierung und der konstruktiven Unterstützung. Es geht dabei, unabhängig davon wie die Lernsituation organisiert ist, um die Qualität der Interaktion der Lernenden untereinander und um die Art und Weise, wie sich die Lernenden mit dem Lernstoff auseinandersetzen (vgl. ebd.). Bedeutsam werden echte Bildungserfahrungen, die Kinder auf die Herausforderungen einer digitalen Welt vorbereiten. Dazu müssen Oberflächen- und Tiefenstrukturen zusammengeführt werden, damit Schülerinnen und Schüler gemeinschaftlich an relevanten Themenstellungen arbeiten, gemäß individueller Lernvoraussetzungen an digitalen Handlungsprozessen partizipieren und dabei konstruktive Unterstützung erfahren können.
5. Zeitgemäße Prüfungskultur
Veränderte Lehr- und Lernprozesse sind in eine zeitgemäße Prüfungskultur eingebettet. SchülerInnen werden dabei verstärkt mit in die Erstellung von Bewertungskriterien einbezogen, um Bewertungsmaßstäbe transparenter zu gestalten. Eltern sind an Entwicklungsgesprächen in größerem Maße beteiligt. Auch auf digitalem Wege können Einblicke in die schulische Entwicklung der Kinder und Jugendlichen ermöglicht werden. Lehrende begleiten individuelle Entwicklungsverläufe über regelmäßige Gespräche und erproben neue Prüfungsformate. Innovative Formate finden sich auf www.pruefungskultur.de.
6. Lernorte
Schule wird auch zukünftig ein Lernort bleiben, aber nicht mehr der einzige. Analoge wie digitale Räume verändern sich, damit echte Fragestellungen in offenen Lehr- und Lernformen umgesetzt und auf vielfältige Weise bearbeitet werden können. Hier wird auf die Bedeutung einer pädagogischen Architektur fokussiert, die kooperative und kollaborative Prozesse befördert und Schulen zu Lernorten macht, an denen Kinder nicht nur Aufgaben bearbeiten, sondern gemeinsam Lösungen zu relevanten Fragestellungen entwickeln, reflektieren und teilen. Gemeint sind Orte, die positive Gefühlsregungen auslösen, Emotionen binden und dadurch bedeutsam werden, weil Kinder affektiv berührt werden und sich als selbstwirksam wahrnehmen, weil sie an einem produktiven Schaffensprozess beteiligt sind. Auch auf das Potential digitaler Räume wird verwiesen, um AkteurInnen von außen mit SchülerInnen zu vernetzen. Zudem gilt es, vielfältig gestaltete Bezugspunkte im Quartier zu öffnen, damit unterschiedliche AkteurInnen zu einer gewissen Zeit zusammenkommen können, um sich gemeinschaftlich mit bedeutsamen Themen auseinanderzusetzen.
7. Digitale
Chancengleichheit Digitalisierung wird in den Gesprächen häufig mit einer Erhöhung von Chancengleichheit in Zusammenhang gebracht. Eine verlässliche Ausstattung aller Kinder und Jugendlichen mit digitalen Endgeräten steht dabei an erster Stelle. Angemerkt wird jedoch gleichzeitig, dass Chancengleichheit nicht automatisch über die Ausstattung mit Geräten hergestellt werden kann, da dadurch lediglich soziale Unterschiede ausgeglichen werden. Neben der verlässlichen Ausstattung wird die Bedeutung individualisierter Lehr- und Lernprozesse hervorgehoben, die dazu beitragen können, dass Kinder und Jugendliche Bildungschancen tatsächlich ergreifen. Diese Fähigkeit ist individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt. Nicht die Chance auf Bildung führt automatisch zu mehr Chancengleichheit, sondern ob es gelingt, die Wahrscheinlichkeit bei jeder und jedem einzelnen zu erhöhen, dass Chancen auch tatsächlich genutzt werden (vgl. Giesinger 2007, 363 ff.). Beklagt werden grundlegend ungerechte Strukturen wie das dreigliedrige Schulsystem.
8. Inklusion als Unterrichtsprinzip
Bildungsgerechtigkeit erfordert zudem ein neues Verständnis von Inklusion als übergeordnetes Unterrichtsprinzip, das für alle Kinder und Jugendlichen vielfältige Gelegenheiten zur Bildungsteilhabe gemäß ihrer individuellen Lernausgangslage vorsieht. Das Potential digitaler Medien bei der individuellen Förderung wird betont. Darüber hinaus wird beim Umgang mit dem Thema Inklusion auf die Notwendigkeit eines grundlegenden Wandels gemäß der Kultur der Digitalität verwiesen. Das Verständnis einer gestaltenden Gemeinschaft muss auch im Kontext von Inklusion weiter gedacht werden. Ermutigung und Bestärkung gelten hier als Grundvoraussetzungen und Ziel gelingender Transformationsprozesse und wirken sich auch auf den Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichen Förderbedarfen aus.
9. Ausstattung der Schulen
Eine verlässliche Ausstattung der Schulen mit digitalen Medien und die dauerhafte Unterstützung durch Personen, die sich vor Ort ausschließlich um Fragen der technischen Infrastruktur kümmern, werden als Grundvoraussetzung zeitgemäßer Bildungsprozesse benannt. Zudem wird der Wunsch nach kollaborativen Plattformen geäußert, die zeitgemäße Lernprozesse unterstützen und herkömmliche Lernmanagementsysteme ablösen, die vorwiegend der Verteilung von Aufgaben dienen.
10. Aus- und Weiterbildung
Um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen zu sein, benötigen SchulleiterInnen und Lehrende vielfältige und flexibel nutzbare Maßnahmen der Aus- und Weiterbildung, die auf unterschiedliche Bedürfnisse und Ausgangslagen zugeschnitten sind (www.schultransform.de). Darüber sind gemeinschaftliche Formate für sämtliche Mitglieder der Schulfamilie und darüber hinaus von Bedeutung, da sich Haltung und Einstellung letztendlich nur durch eine Kombination aus Erfahrung, Anregung und Austausch verändern und entwickeln lassen. Zusammenfassung Setzt man die einzelnen Themenfelder zusammen, zeigt sich deutlich, dass ein breiter Konsens darüber herrscht, dass sich Schule vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Welt in unterschiedlichen Bereichen verändern muss – einer Welt, die immer unbeständiger, ungewisser und komplexer wird und nach mehrdeutigen Lösungen verlangt. Stellt man diese Herausforderungen traditionellen Unterrichtssettings gegenüber, die mit Hilfe digitaler Medien „gestützt“ werden, wird deutlich, dass Lehr- und Lernprozesse grundlegend anders gestaltet werden müssen. Ins Zentrum rücken Aufgaben- und Problemstellungen, die alle Kinder und Jugendlichen gemäß individueller Lernvoraussetzungen dazu anregen, komplexe Probleme im Rahmen von gemeinschaftlichen Aushandlungsprozessen zu bewältigen und dabei relevante Kompetenzen zu erwerben (vgl. Pallesche 2020, 195). Um Bildungserfahrungen in der Kultur der Digitalität zu ermöglichen, benötigen Kinder und Jugendliche zudem anregende Räume – auch außerhalb der Schule –, vielfältige Gelegenheiten und ausreichend Zeit zur kreativen und produktiven Auseinandersetzung mit relevanten Themen, zum wechselseitigen Austausch mit unterschiedlichen Akteuren in analogen und digitalen Handlungsprozessen. Eingebettet ist dieses Tun in eine neue Prüfungskultur.
Wir wissen nicht, welche konkreten Anforderungen an Kinder und Jugendliche in 10 oder 20 Jahren gestellt werden. Aber sie sind bereits jetzt andere als noch vor 10 Jahren. Die Bereitschaft, das Bildungssystem zu verändern und herkömmliche Vorstellungen des Lehrens und Lernens grundlegend zu überdenken war noch nie so groß. Deshalb ist eine starke und agile Vernetzung sämtlicher AkteurInnen nötig, um Transformationsprozesse nicht nur anzustoßen, sondern auch konkret umzusetzen und langfristig zu implementieren.
Uta Hauck-Thum
- Studium des Lehramts an Grundschulen an der Universität Augsburg
- 1. Staatsexamen, Referendariat
- 2. Staatsexamen, Grundschullehrerin in München
- ab 2008 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur der LMU München
- 2011 Promotion zum Thema „Geschlechtersensible Medienarbeit im Deutschunterricht der Grundschule“
- 2014 Akademische Rätin am Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur der LMU München
- 2016 Ruf auf eine Professur an der Pädagogischen Hochschule Salzburg
- 2018 Ruf auf eine W2-Professur am Lehrstuhl für Grundschulpädagogik und -didaktik der Ludwig-Maximilians-Universität München
Mitgliedschaften
- Bündnis für Bildung/wissenschaftlicher Beirat des vom BMBF-geförderten Projektes Schultransform
- Deutscher Hochschulverband
- Symposion Deutschdidaktik (SDD)
- AG Medien im Symposion Deutschdidaktik
- Arbeitskreis für Jugendliteratur e.V