Bildung für junge MenschenHumanismus PLUS – Weil junge Menschen umfassende Bildung verdient haben
Text: Tobias Zimmermann SJ
„Die meisten Menschen ahnen nicht, was Gott aus ihnen machen könnte, wenn sie sich ihm nur zur Verfügung stellen würden.“ Diese Aussage von Ignatius von Loyola ist eine Provokation: Sie vermag Menschen aufzurütteln, damit sie sich fragen: „Welche Potentiale schlummern in mir, die auf ihre Entfaltung warten?“ Das ignatianische Bildungskonzept beruht auf einer sehr grundsätzlichen Wertschätzung der menschlichen Person und ihrer Fähigkeit, dem eigenen Leben Inhalt und Bedeutung zu geben. Diese Fähigkeit macht gleichzeitig die Würde und die Bürde des Menschseins aus.
Anders als elitäre Konzepte der Selbstoptimierung erschöpft es sich nicht darin, eigene Ressourcen optimal für Selbstverwirklichung und Karriere zu entfalten. Immer geht es auch um die Frage, wie der Mensch seine Talente für das Wohl der Gesellschaft – insbesondere für die Schwächsten – und für die Bewahrung der Schöpfung einzusetzen lernt. Zum Exzellenzanspruch ignatianischer Persönlichkeitsbildung gehören neben einer guten akademischen Schulbildung und neben der Entwicklung kritischer Urteilskraft deshalb auch moralische Erziehung und die Bildung auf dem Felde der Ethik.
Ignatianische Pädagogik zielt genau wie andere Formen eines christlich grundierten Humanismus auf die Bildung der ganzen Person. Ihr Name geht zurück auf Ignatius von Loyola, der 1534 den Jesuitenorden gründete. In einer persönlichen Krise ergriff ihn die rettende Einsicht, als Person ganz von Gott angenommen und akzeptiert zu sein. Weil Gott die Welt liebt, kann man ihn in allem suchen und finden. So fasste Ignatius neues Vertrauen in die eigenen Begabungen und Kräfte. Erfüllt vom Wunsch, diese Talente im Dienst Gottes und im Dienst an anderen möglichst gut einzusetzen, schulte er seine intellektuellen Fähigkeiten an der besten Universität Europas in Paris. Zugleich unterwies er Mitstudenten in jener „Schule des Herzens“, den „Exerzitien“ oder „geistlichen Übungen“, die ihm selbst aus der Krise geholfen hatten. Seither ist echte Bildung im Sinne der Ignatianischen Pädagogik immer auch Herzens- und Charakterbildung. Sie öffnet die Augen dafür, dass die Welt und die eigene Gesellschaft noch weit davon entfernt sind, allen Menschen ein erfülltes Leben in Würde zu ermöglichen. Selbstentfaltung des Individuums ist kein Selbstzweck sondern Grundlage, um sich engagiert und kompetent für die Bewahrung der Schöpfung, für Glaube und Gerechtigkeit einzusetzen. Dazu gehört wesentlich auch, dass die Schulen selbst sich dem Anspruch stellen, einen Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit zu leisten.
Das Plus im Humanismus PLUS bezeichnet das Christliche, aber nicht im Sinne einer additiven Zugabe zu einem sonst weltanschaulich neutralen Bildungskonzept. Christlicher Humanismus bedeutet vielmehr eine Erziehung unter den Augen Gottes und eine intellektuelle Bildung, welche die Frage nach Gott offenhält. Dabei ist Ignatianische Pädagogik, ist ein Humanismus PLUS keine Pädagogik exklusiv für Christen. Interreligiöser Dialog und Lernen in der interkulturellen Begegnung sind heute nicht zufällig wesentliche Querschnittsaufgaben des Ordens. In einer Welt, in der sich Gott in allem suchen und finden lässt, ist immer damit zu rechnen, dass die „Wahrheit“ uns jenseits der Grenzen des Bekannten, der eigenen Kultur, Weltanschauung, Religion oder Konfession begegnet. An einem solchen humanistischen Bildungskonzept können Menschen aller Weltanschauungen, Religionen und Kulturen teilhaben und mitwirken.
Derzeit wird unsere Schulpädagogik getrieben von funktionalistischen Interessen, die nur begrenzt mit einem umfassenden Verständnis von Bildung zu tun haben. Da geht es viel um die Förderung von Fähigkeiten, die junge Leute angeblich später im Berufsleben brauchen sollen. Es wird über die Betreuung der jungen Menschen gesprochen. Eine Mehrzahl von ihnen aber verlässt die Schulen mit dem Gefühl, dass es allzu oft nicht um sie als Person ging. Es gibt dementsprechend viel Frust bei Eltern und Jugendlichen und dies trotz des großen Einsatzes von Pädagoginnen und Pädagogen, von denen viele alles geben, was ihnen möglich ist. Aber im entscheidenden Moment fehlen die Rahmenbedingungen und eine angemessene Förderung ihres Engagements zum Beispiel durch regelmäßige Fortbildungsmaßnahmen. Es ist also an der Zeit, dass sich all jene Bildungsträger, Pädagog*innen und Bildungseinrichtungen verbünden, denen eine umfassende Bildung junger Menschen wichtig ist.
„Sich zu bilden, ist tatsächlich etwas ganz anderes als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein.“ (Peter Bieri in einem Vortrag in Basel)
Die Würde des Menschen besteht darin, sich durch sein Handeln – also durch seinen Willen – als sittliches, vernünftiges und freies Wesen selbst gestalten zu können und zu müssen. Die Selbstentfaltung des Menschen kann nur gelingen, wo sie eingebunden ist in die soziale Auseinandersetzung und mitgetragen wird von einer wertschätzenden Gemeinschaft. Diese Überzeugung teilt die Ignatianische Pädagogik mit allen Bildungstraditionen, die den Menschen ins Zentrum stellen. Da der Würde des Menschen seine Verantwortung entspricht, die er für sich, für andere Menschen und für die Welt trägt, kann eine Entfaltung der Persönlichkeit des Schülers und der Schülerin in gesunder Weise nur dort gelingen, wo sie in soziales Lernen eingebunden ist. Dies erlaubt den Schüler*innen, (selbst-)kritisch reflektieren zu lernen, was ihre Würde aber auch ihre Verantwortung im sozialen Miteinander ausmacht. Und damit sind wir bei einer zweiten elementaren Dimension umfassender Bildung: reflektieren zu lernen.
Bildung, die im Dienste der werdenden autonomen Persönlichkeit steht, legt in Bildungsprozessen den Akzent auf „Selbstentfaltung“. Dementsprechend kommt der lebendigen Erfahrung, ihrer Reflexion, der Erprobung selbstverantwortlichen Handelns und seiner Reflexion zentrale Bedeutung zu. Zu solchen Lern- und Wachstumsprozessen gehören Krisen ebenso wesentlich dazu wie Irrtümer und Fehler. Zu einer Schulkultur, welche die Würde der Schüler*innen in den Mittelpunkt stellt, gehören wesentlich die „Chance auf einen Neuanfang“ und die Sorge um den Einzelnen, so dass sich Schüler*innen in all diesen Lernprozessen geachtet, gesehen und begleitet wissen.
In guter Schulbildung lernt ein junger Mensch also bewusst Erfahrungen zu machen und sie kritisch zu reflektieren. Die Reflexion gewinnt in der Auseinandersetzung mit der Theorie, mit Sprache, Argument und Diskussion an Tiefe und Bedeutung.
„Erfahrungsgesättigt“ meint in der ignatianischen Tradition dabei gerade nicht die Anhäufung immer neuer Erfahrungen. Ignatius schreibt: „Nicht das Vielwissen sättigt und befriedigt die Seele, sondern das Verspüren und Verkosten der Dinge von innen her.“ Am Anfang des Lernens steht also die Entdeckung der eigenen Fähigkeit Dingen Bedeutung zuzumessen „im Verkosten“ der Erfahrung von innen her. So braucht gute Schulbildung Räume und Zeiten für die individuelle Entfaltung, die ganz persönliche Auseinandersetzung und für das eigene Nachdenken. Aber erst geteilte Erfahrungen im gemeinschaftlichen Handeln ermöglichen die Bildung echter individueller Persönlichkeit. Deshalb braucht es die soziale Einbindung des individuellen Lernens in eine Lerngruppe, die gemeinsame Erfahrung und Reflexion und das Erlernen der Kompetenz, Probleme kooperativ zu lösen. Nur auf diesem Wege bildet sich eine autonome und doch sozial gesinnte und gemeinschaftsfähige Persönlichkeit.
Das Bildungsziel eines mündigen, kritisch urteilenden Menschen macht Autorität im Bildungsprozess aber keineswegs überflüssig. Denn Lernen geschieht auf diesem Feld vor allem über Vorbilder. Der Lehrende ist Vorbild. Hier liegt eine wichtige Rollenaufgabe von Lehrenden. Um bei den Schüler*innen die Entwicklung der Mündigkeit des eigenen Urteils zu befördern, ist es aber auch seine Aufgabe, jene Formen der Auseinandersetzung zu eröffnen, die auf dem Weg zur Mündigkeit unerlässlich sind. Um in dieser Spannung zwischen Vorbildfunktion und Ermöglichung des kritischen Diskurses die rechte Balance zu finden, braucht es die professionelle Reflexion ihrer Rolle im Lernprozess durch die Lehrenden sowie ein klares pädagogisches Konzept, das im Schulprofil verankert sein muss. Nicht wenige Lehrende und Pädagog*innen fühlen sich aber überfordert mit dieser Aufgabe. Viele fühlen sich darauf nicht vorbereitet. Und ständig wachsende Anforderungen durch kulturelle Veränderungen wie die Digitalisierung und eine wachsende soziale und kulturelle Diversität erfordern für diese Dimension von Bildungsarbeit kontinuierliche Fortbildung und ggf. auch die Chance, durch Coaching und Intervision für die alltägliche Arbeit gestärkt zu werden. Aus dieser Überzeugung heraus engagiert das Zentrum für Ignatianische Pädagogik sich für attraktive Fortbildungs- und Begleitangebote für Pädagog*innen. Denn den entscheidenden Unterschied im Blick auf die Qualität von Bildung machen gute Lehrerinnen und Lehrer, gute Erzieherinnen und Erzieher. In sie sollten wir als Gesellschaft investieren.
Tobias Zimmermann SJ ist Priester und Jesuit. Als Pädagoge setzt er sich seit vielen Jahren für die Bildung junger Menschen in Schule und Jugendarbeit ein. Er ist Autor und Herausgeber von Büchern zu pädagogischen, bildungspolitischen und spirituellen Themen. Seit Oktober 2019 ist Pater Zimmermann Direktor des Heinrich Pesch Hauses – Katholische Akademie Rhein-Neckar. Im Rahmen der Leitung des Zentrums für Ignatianische Pädagogik ist er bei Projekten der Schulentwicklung, im Coaching für Leitungskräfte und in der Fortbildung von Schulleitungen und Pädagog*innen tätig.