Bildung weiterdenkenWas muss bei der nächsten Generation ankommen?

Bildung

Gedanken von Pater Beschorner SJ, Geistlicher Beirat der KEG Deutschlands

Dass Corona wie ein Brennglas auf die Gesellschaft wirkt, ist in den letzten Monaten oft benannt und beschrieben worden. Durch die Pandemie ist meiner Meinung nach nicht wirklich Neues in einer Gesellschaft an Strömungen entstanden, aber es wird vieles deutlicher, konturenschärfer und damit besser sicht- und hörbar. Interessant ist doch, dass gerade heute der Begriff der „verlorenen Generation“ der Kinder und Jugendlichen die Runde macht. Und das schon nach der bisherigen Zeit, die die Pandemie anhält?

In der Sächsischen Zeitung vom 27. Mai 2021 ist in einem Artikel zu lesen „Langsam werden alle dünnhäutiger“. Die Dresdener Schülersprecherin Joanna Kesicka schreibt, „dass Shoppen und Gastronomie Vorrang vor Bildung haben, ist sehr enttäuschend für uns.“ Lernstoff zu Hause irgendwie zu pauken, gelingt sicher nicht der Mehrheit gut. „Außerdem geht es in der Schule nicht nur darum, zu lernen, sondern auch seine Freunde zu treffen, das fehlt.“ schreibt Joanna weiter und plädiert dafür, dass alles getan werden müsse, die Infektionszahlen zu senken, um den vollen Präsenzunterricht wieder zu bekommen. Aber das ist doch interessant. SchülerInnen rufen danach, zurück in die Schule zu dürfen? Wie bitte?

In dem diktatorischen System, in dem ich aufgewachsen bin und in dem es nur die immanente materielle gesellschaftliche Frage-Antwort-Kategorie gab und die Welt klar in wissenschaftlich und unwissenschaftlich geteilt war, war die Schule dafür da, Handwerkszeug zu lernen, um dann möglichst reibungslos in einem Beruf die Familie ernähren zu können. Auch wenn diese Sichtweise nicht Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, war vieles vermeintliche Wissen nur für eine gute Note da, um dann schnell verdrängt und vergessen zu werden. Genau, die gute Note war wichtig, der Output, auf das Ergebnis kam es an. Und woran erinnere ich mich? An Fächer? An tolle pädagogisch vermittelte Inhalte? Sorry, ich erinnere mich an Menschen, die wir in der Klasse zusammen waren und uns geholfen hatten oder auch das Leben erschwert haben. Ich erinnere mich an LehrerInnen, die eine Menschlichkeit durch die ideologische Glocke haben scheinen lassen. Oft verschlüsselt, aber ehrlich und zwischen den Zeilen zu erspüren. Mit unserer Klassenlehrerin, die uns 1970 in der ersten Klasse begrüßte, haben wir heute noch Kontakt. Für sie waren wir als Menschen wichtig, Kinder, die sich entwickeln wollen und nicht kleine patriotische Politgenossen zu formen. Der Stoff der Fächer war eher sekundär – jedenfalls aus der Erinnerung heraus. Und dann war für mich positiv, dass wir im Schulsystem von der ersten bis zur Klasse 10 im selben Klassenverband waren. Das war ziemlich entscheidend, denn wir haben uns als Menschen in der Klasse entwickelt, zum Positiven. Leider haben es einige bis zum Schluss im Verband schwer gehabt, was auch zur Wahrheit gehört. Um Missverständnisse auszuschließen, ich rede hier nicht dem ideologisch inhaltlichen das Wort, sondern einfach dem Phänomen, dass wir uns als Kinder, dann durch die Pubertät hinweg, zu Jugendlichen miteinander in einem Klassenverband entwickeln konnten.

Jahrzehnte später, als ich selber im Schuldienst als Seelsorger und Religionslehrer im dann vereinten Deutschland tätig war, habe ich mich dann von der unterrichtenden Seite her gefragt, was bleibt hängen von all dem pädagogisch aufwändig aufgearbeiteten Stoff? Und dann noch Religion? Und dann gab es im Kollegium und der Schulleitung die endlosen Diskussionen darüber, wozu dieses Gymnasium eigentlich da ist. Es ist eine Einrichtung, um Wissen zu vermitteln, die Kinder zu bilden! So war oft der Tenor. Wir können nicht auf alle „Sozialfälle“ Rücksicht nehmen. Aber nein, wir sind doch ein christlichkatholisches Gymnasium, da müssen wir doch sozialer agieren und Rücksicht nehmen auf die Schwächeren! Aber um die Stärkeren dann zu unterfordern? Ein Dilemma. Unter dem Strich blieb auch hier übrig, dass die menschliche und auch christliche Entwicklung des Einzelnen zwar die mitschwingende Priorität hat, aber dass es letztlich doch um ein exzellentes Abitur ging, womit man dann in Gesellschaft und Wirtschaft bestehen kann und womit die Wirtschaft auch was anfangen kann. Und das bei allem Mühen der LehrerInnen und SchülerInnen, was unbedingt ehrlich und auch anerkannt ist und ich auf keinen Fall kritisieren möchte.

Bildung

Mit dem aktuellen Schulsystem habe ich mich jedoch bis heute nicht anfreunden können, da ich nicht nachvollziehen kann, warum gewachsene Sozilagefüge in der Grundschule nach der 4. Klasse, wenn die Kinder etwa zehn Jahre alt sind, ohne Not auseinandergerissen werden und sich auf einmal alles ändern muss – MitschülerInnen, LehrerInnen, schulische Inhalte, Schulwege, ganz neue Umgebungen und somit auch der Lebensrhythmus der ganzen Familie! Ich führe diese Punkte aus, weil ich glaube, dass sie auch zentral für das Thema Bildung stehen. Ich denke, dass unser aktuelles Schulsystem noch für das Zeitalter der Industrialisierung steht, wo es um Input und Output geht, wo Bildung im Ergebnis letztlich gute Noten bedeutet, die man durch Prüfungen erlangt, um dann tauglich für das Wirtschaftssystem zu sein, indem wir heute leben. Das ist mit über Generationen so gestaltet, entwickelt und gepflegt. Aber ich bin davon überzeugt, dass es in Zukunft anders werden muss. Heute leben wir in einer Informationsgesellschaft und gerade junge Menschen werden jede Stunde am Tag mit Informationen zugeschüttet und die schiere Masse ist so groß, dass niemand mehr unterscheiden kann, was richtig, wahr und wichtig ist. Input und Output kommt so an die Grenzen. Und Bildung ist bekanntermaßen mehr als die Summe von gelernten Informationen.

Und jetzt, nach der dritten Welle der Pandemie, wird ein noch in der Lebenszeit unserer Generationen noch nicht dagewesenes Phänomen sichtbar. Die Schulen wurden komplett geschlossen, der reibungslose Ablauf wurde gestört. Und jetzt wurde dasselbe Input-Output-System einfach auf das Zuhause verlagert. Und? Nach kurzer Zeit fing der Stress an, von denen sicher die meisten ein Lied singen können. Auch wenn es sicher gute Beispiele gibt, wie das Familien-Lernen gelingen kann, war es für die meisten schwierig, wie in der Sächsischen Zeitung stand, dass „langsam alle dünnhäutiger werden.“ Und, noch besser, die SchülerI,nnen wollen zurück in die Schule. Aber nicht ausschließlich, weil dort der tolle Unterrichtsstoff, der zu lernen ist wartet, höchstens weil ja Prüfungen geschafft werden müssen, sondern es geht um die wichtigere soziale Komponente, wie fast schüchtern die Schülersprecherin Joanna Kesicka betont. Der Mensch ist als soziales Wesen auf Gemeinschaft ausgelegt und lernt in Gemeinschaft viel besser. Er bereichert und inspiriert sich im günstigsten Fall und entwickelt die eigenen Begabungen und Fähigkeiten.

Bildung weiterdenken? Hier kommt das Problem der bisherigen Notwendigkeit von Leistungen messbar und vergleichbar mit Abschlüssen zu haben, fast wie ein Verhinderer in die Quere. Wie wäre es mit Bildung als Förderung von Kreativität und der individuellen Begabung Einzelner in der Gruppe? Vielleicht braucht es sogar Mut, die Kinder nicht stur nach Alter in Klassen und Kurse zu zwängen, sondern viel mehr nach Begabungen und Fähigkeiten mit Altersflexibilität zu schauen? Vielleicht wären mehr und auch verschiedene Schulsysteme denkbar, als nur die sture Kategorisierung, nach der das Abitur an der Spitze steht. Wie konnte es dazu kommen, dass eine Hauptschule gesellschaftlich nicht viel Wert ist? Aber das würde eine gewisse Radikalität im Umdenken verlangen und dem derzeitigen Wirtschaftssystem natürlich widersprechen. Und alle, die mit Schule zu tun haben wissen, wie schwer Veränderungen in Systemen sind. Als katholischer Priester kann ich da auch mit unserer Kirche ein Lied singen. Aber kein endzeitliches. Ich sehe es hoffnungsvoll. Menschen leben heute und Veränderungen kommen, ob wir wollen oder nicht. Es lohnt sich, die konkreten Versuche in Schulen etwas anders und alternativ zu denken und zu gestalten, als Bereicherung wahrzunehmen und nicht als zu unterdrückende Konkurrenz.

Vielleicht ist auch der Blickpunkt der Überschrift falsch, denn nicht „Was muss in der nächsten Generation ankommen?“ sondern „Wie können wir helfen, dass sich die nächste Generation entwickeln kann?“ sollte es heißen. All das ist ja eigentlich nicht neu, denn schon Paulus sagt zu der Gemeinde in Rom: „Denn aufgrund der Gnade, die mir gegeben ist, sage ich einem jeden von euch: Strebt nicht über das hinaus, was euch zukommt, sondern strebt danach, besonnen zu sein, jeder nach dem Maß des Glaubens, das Gott ihm zugeteilt hat! Denn wie wir an dem einen Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus, als Einzelne aber sind wir Glieder, die zueinander gehören. Wir haben unterschiedliche Gaben, je nach der uns verliehenen Gnade. Hat einer die Gabe prophetischer Rede, dann rede er in Übereinstimmung mit dem Glauben; hat einer die Gabe des Dienens, dann diene er. Wer zum Lehren berufen ist, der lehre; wer zum Trösten und Ermahnen berufen ist, der tröste und ermahne. Wer gibt, gebe ohne Hintergedanken; wer Vorsteher ist, setze sich eifrig ein; wer Barmherzigkeit übt, der tue es freudig. Die Liebe sei ohne Heuchelei. Verabscheut das Böse, haltet fest am Guten!“ (Römer 12,3-9).

Herauszufinden, welche Gaben die jungen Menschen haben und diese zu fördern und zu entwickeln, kann „Bildung weiterdenken“ heute bedeuten.