Freiheit oder Bindung

Wir sind frei. Das wollen wir sein, sollen wir sein – und das garantiert uns Artikel 2 im Grundgesetz. So weit, so gut. Gleichzeitig sind wir soziale Wesen … und das schränkt unsere Freiheit schnell wieder ein. Denn mit unserer Geburt werden wir Teil einer Gemeinschaft, die bestimmte Normen, Werte, moralische Vorstellungen, möglicherweise bestimmte Ziele verfolgt. Familie, Kita, Schule, Sportverein.

Wie lassen sich die individuellen Bedürfnisse und Entwicklungsstufen eines Kindes mit Gruppenregeln und Erziehungsstrategien in Einklang bringen?

Nach der Bindungstheorie des Kinderpsychiaters John Bowlby und der Psychologin Mary Ainsworth handelt es sich beim Bedürfnis nach Bindung um ein angeborenes menschliches Grundbedürfnis. Es dient dem Überleben, denn mutterseelenalleine kann sich ein Baby nicht versorgen. Diese Bindung an eine Bezugsperson kann Hilfe und Unterstützung zwar nicht garantieren, aber doch deutlich wahrscheinlicher machen. Bindung als natürliche Überlebensstrategie.

Je älter Kinder werden, umso mehr Bindungen gehen sie ein. Warum ist das so? Hier unterstützt Mutter Natur nicht mehr das nackte Überleben. Nichtsdestotrotz geht es um menschliche Grundbedürfnisse. Denn laut Maslowscher Bedürfnispyramide folgen direkt auf körperliche Bedürfnisse die sozialen:

Anerkennung in der Gruppe motiviert uns. Grund hierfür ist ein ganz einfacher, zumindest aus biologischer Sicht: In unseren Emotionszentren werden die Botenstoffe Dopamin, Oxytocin und Opioide ausgeschüttet und erhöhen Motivation, Konzentration und Vertrauen. Klingt ganz einfach, ist es aber nicht. Denn was neurobiologisch ganz automatisch abläuft, ist gesellschaftlich und emotional betrachtet trotzdem oft schwierig. Die Grenzen zwischen Freiheit und Gemeinsinn sind unscharf bis flexibel, der Deutungsspielraum ein individueller, das Konfliktpotential groß. Wer sich zu viel Freiheit nimmt, mutiert gesellschaftlich zum ekelhaften Egoisten, wer sich Freiheit nehmen lässt zum willenlosen Weichei. Und schon ist Schluss mit Anerkennung und Wohlgefühl, schnell gibt’s Ärger.

Wann fängt Beziehung an, wo hört Freiheit auf? Wir wünschen uns Kinder, die sich sachlich mitteilen und ihre Meinung frei äußern und verteidigen können; die sich behaupten, für sich und andere einstehen. Gleichzeitig sollen sie in der Gruppe empathisch agieren, teilen, Grenzen akzeptieren. Was aber, wenn es knirscht? Wenn die Meinungen und Grenzen anderer einschränken? Wenn Konflikte, Streitereien oder sogar Mobbing entstehen?

Wo endet das Recht auf individuelle Freiheit, wo beginnt und siegt Bindung? Hier mit Kants Kategorischem Imperativ zu argumentieren funktioniert leider nur auf dem Papier: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Aha. In Kita und Klassenraum wird diese – zugegeben sehr weise – Regel vermutlich floppen. Wie lässt sich ein offenes, respektvolles und partizipatives Umfeldals Grundlage für eine Gruppe mit größtmöglicher Freiheit für jeden Einzelnen schaffen?

Zur Kita- und Schulfamilie gehören Kinder, Lehrer und Eltern, die untereinander in Beziehung stehen. Alle müssen gewisse Regeln einhalten, jeder braucht Freiheiten.

Kita / Schule

Im Kindergartenalter ist die Entwicklung der Ich-Identität von großer Bedeutung. Entwicklungspsychologisch betrachtet legt die frühe Eltern-Kind-Bindung den Grundstein für Fähigkeiten wie die Bewältigung schwieriger Situationen, soziales Geschick, schulische Leistung und Sprachgebrauch. Der Gruppenraum bzw. das Klassenzimmer ist ein Stück außerhäuslicher Lebensraum, in dem viele Einzelne eine (Klassen-) Gemeinschaft bilden. Die Bindung an Freunde und Erziehende sorgt dort für Sicherheit sowie das Selbstvertrauen, Dinge auszuprobieren und zu entdecken. Hier sind große Aufmerksamkeit, Unterstützung und Anleitung seitens der Pädagoginnen und Pädagogen nötig. Denn maximale Motivation lässt sich durch unterschiedliche Interventionsmöglichkeiten erreichen. Dazu gehört einerseits die Förderung der sozialen Einbindung, des Kompetenzerlebens sowie der Autonomieerfahrung: Ich bin Teil einer funktionierenden, unterstützenden Gemeinschaft, ich kann etwas schaffen. Andererseits die Betonung der subjektiven Bedeutung des Lernstoffs: Wofür ist das Gelernte gut? Welchen Nutzen habe ich davon?

Für ein gesundes Gleichgewicht zwischen individueller Autonomie und kollektiver Verantwortung ist zunächst wichtig, wo noch nicht vorgegeben, klare gemeinsame Werte und Regeln festzulegen: Wie spielen / arbeiten wir zusammen, welche Gesprächsregeln müssen eingehalten werden, welche verbindlichen Grundlagen schaffen wir für das Verhalten und die Interaktion in der Gruppe?

In der Gruppe fungiert der Pädagoge/die Pädagogin nicht nur als Lehr- und Leitfigur, sondern auch moderierend. Es ist nicht einfach, allen Kindern gerecht zu werden, selbstbewussten wie schüchternen Partizipation zu ermöglichen, sie zu motivieren, sich zu äußern und an Prozessen teilzunehmen.

Für eine gelingende Partizipation ist offene Kommunikation nötig. Dazu können beispielsweise regelmäßige Morgenkreise, „Zeit-für-uns“-Stunden oder ähnliches beitragen. Unter Anleitung können die Kinder aktives Zuhören und respektvolles Feedback üben und verstehen, dass unterschiedliche Meinungen und Perspektiven willkommen sind und zur Bereicherung der Gruppe beitragen. Mit Unterstützung der Erzieherin, des Erziehers oder der Lehrkraft können Konflikte konstruktiv behandelt und gelöst werden. Das fördert soziale Kompetenzen, hilft Missverständnissezu klären, führt bei Konfliktlösung zum Erfolgserlebnis und verbessert schlussendlich das Gruppenklima und den Zusammenhalt. Erzieherinnen, Erzieher und Lehrkräfte sollten bei allem Tun die Selbstverantwortung der Kinder betonen, sie ermutigen, für ihr eigenes Verhalten und ihren eigenen Lernprozess verantwortlich zu sein und klare Erwartungen hinsichtlich der individuellen Verantwortung festsetzen.

Die rechte Balance zwischen Freiheit und Bindung in Kita und Schule ist außerdem notwendig, um ein effektives Lernumfeld zu schaffen. Zu viel Bindung und Kontrolle kann die Kreativität und das Engagement einschränken, während zu viel Freiheit zu Chaos und mangelnder Verantwortlichkeit führen kann. Dabei müssen Bindung mit kollektiver Verantwortung und individuelle Freiheit ständig neu austariert werden. Denn Gruppen und Klassen verändern sich, Kinder werden älter und können evtl. mehr Verantwortung übernehmen.

Erzieherinnen, Erzieher und Lehrkräfte

Erzieherinnen, Erzieher und Lehrkräfte Zurück zum Anfang, zur Bedürfnispyramide, zu erhöhter Konzentration und Lernbereitschaft durch Bindung und Anerkennung. Wie beeinflusst eine ausgewogene Beziehung zwischen Bindung und Freiheit den Lernerfolg? Von großer Bedeutung ist die Beziehung zwischen Kindern und Pädagoginnen und Pädagogen. Eine zu enge Bindung ohne Freiheit kann einschränken und die Selbstständigkeit behindern. Zu viel Freiheit ohne Bindung führt andererseits evtl. dazu, dass sich Kinder verloren und orientierungslos fühlen. Wichtig ist es, eine unterstützende, aber gleichzeitig Autonomie-fördernde Umgebung für Kinder zu schaffen. Erfolg und das Gefühl, etwas geschafft zu haben, motiviert. Auch hier eine Gratwanderung, die immer neu bemessen werden muss.

Das Thema der rechten Balance zwischen Bindung und Freiheit gilt auch im Kollegium und kann dazu beitragen, den Informationsaustausch zu verbessern, Ressourcen zu teilen und ein unterstützendes Umfeld für die berufliche und schulische Entwicklung zu schaffen. Die Bindung an Lehrpläne ist dabei absolut sinnvoll. Ein „Gleichschritt“ aller Kolleginnen und Kollegen gleicher Klassenstufen, einheitliches Unterrichtsmaterial und identische Prüfungsstellungen können dagegen sehr einschränken. Auch, wenn sie aus Gesichtspunkten der Nachvollziehbarkeit und Fairness gut funktionieren und vermutlich die ein oder andere Arbeitsstunde ersparen – den Lernstand und Erfolg einer Klasse kann nur die eigene Lehrkraft gut beurteilen. Nur sie kennt das ideale Lerntempo, weiß, welche Inhalte gut verstanden wurden, was vertieft werden muss, welche Methode am besten funktioniert. Hier ist die rechte Balance zwischen Autonomie und Bindung sehr komplex. Einerseits benötigen Lehrkräfte die Freiheit, ihre pädagogischen Fähigkeiten zu entfalten und den Bedürfnissen ihrer Schülerinnen und Schüler gerecht zu werden. Andererseits ist die Bindung zu Kindern, Kolleginnen und Kollegen sowie den Eltern entscheidend, um einen effektiven schulischen Rahmen zu gestalten.

Eltern

Eltern sollten ihre Kinder vertrauensvoll begleiten, sie fördern, aber nicht überbeschützen. Beim sogenannten „Overparenting“ (Helikoptereltern) werden Kinder nicht entsprechend ihres Entwicklungsstandes behandelt, sondern überbeschützt. Daraus können nach pädagogischpsychologischen Beobachtungen in extremen Fällen Assoziationen mit Narzissmus, reduzierte sozio-emotionale Fähigkeiten, weniger Selbstwirksamkeit und ein geringerer Schulerfolg resultieren.

Um als Eltern die Autonomie und Selbstwirksamkeit der Kinder wohldosiert zu fördern, können sich Elternteile im sogenannten „School-Based Envolvement“ schulisch engagieren (beispielsweise Schulausflüge begleiten, Elternsprechtage besuchen), falls nötig beim Lernen Zuhause unterstützen („Home-Based Envolvement“) und Entscheidungen beratend begleiten („Academic Socialisation“).

Auch die Bindung zwischen Eltern und Lehrkräften ist von Bedeutung: Offene Kommunikation und eine positive Beziehung können dazu beitragen, die Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus zu fördern und so das Wohl der Schülerinnen und Schüler zu unterstützen.